Artemis

Resizing Artemis

FaveLAB Athens: ONE PLUS ONE

HANNAH STIPPL +
PETROS CHRISOSTOMOU //

EXHIBITION //
11 - 14 December 2019

Fascinated by geometric Greek pottery, Hannah Stippl (Austria) studied and copied ornaments in order to decipher the stories of people and gods, of plants, animals and landscapes depicted on the vases.
In her paintings, Stippl interweaves patterns and collages into dense associative structures and establishes a link between a landscape's reality and imaginary landscapes made up of patterns.

The Vienna-based artist establishes unexpected connections and associations by examining the possibilities of meaning, knowledge and practice that are generated and transmitted through ornaments. Rather than presenting a factual reality, illusion is fabricated to conjure the realms of our imagination. Stippl investigates the concept of landscape and its limits by constructing an obscured, hindered view reminding of the way one looks at hidden spaces through layers of grids, fences, veils.

Hannah Stippl's interest in Greek antiquity began with the exploration of a plant, the genus Artemisia, connected to the name of the goddess Artemis and the myths of nymphs and sirens. In Athens, Hannah Stippl plans to retrieve their traces.

Das Kraut der Artemis

Die Mittagshitze trägt den aromatischen Duft der Artemisien zu mir ins Haus. Draußen in den Beeten wuchern unterschiedliche Arten neben- und durcheinander, die meisten schon im Mai frauhoch. So groß ihre Bedeutung als Heil- und Ritualkräuter in der Vergangenheit war, so bedeutungslos scheinen sie heute, denn für den kommerziellen Geschmack sind Artemisien zu unscheinbar, — und zu bitter. Man kennt Wermut (Artemisia absinthium) und Estragon (Artemisia dracunculus), vielleicht auch Beifuss (Artemisia vulgaris) — sie sind die heute bekanntesten Vertreter der botanischen Gattung Artemisia, die über 300 Arten weltweit umfasst. Ihre Farbenvielfalt ist außergewöhnlich: Von zartem Silbergrau, fast metallisch anmutendem Graugrün, Giftgrün bis zu dunklem Saftgrün reichen die Variationen. Man findet Artemisien in den brennenden Sandwüsten von Afrikas, so gut wie im rauhen Sibirien, und gerade dort gibt es viele Arten. Artemisien wachsen in Mexiko über Nordamerika bis Alaska, sie gedeihen in der Nähe des Äquators, aber auch in Grönland, Labrador und Kamtschatka. Artemisien wachsen an den Ufern der Weltmeere aller Zonen, und sie steigen hinauf bis zu dem ewigen Schnee der Berge. 

Gemyne ðu, mucgwyrt, hwæt þu ameldodest,
hwæt þu renadest æt Regenmelde.
Una þu hattest, yldost wyrta.
ðu miht wið III and wið XXX,
þu miht wiþ attre and wið onflyge,
þu miht wiþ þam laþan ðe geond lond færð.

Erinnere dich, Beifuss, was du verkündet hast,
was du bekräftigt hast bei der grossen Versammlung.
Una heisst du, ältestes Kraut.
Du hast Macht für 3 und gegen 30,
du hast Macht gegen Gift und gegen Ansteckung,
du hast Macht gegen das Übel, das über Land fährt.
— Lacnunga Codex, British Library Harley 585, 11. Jahrhundert

Besonders gern wuchern sie an Straßen und Wegesrändern, wo sie oft ein unbeachtetes Schattendasein führen. Als Pionierpflanze an Wegrändern, auf Brachen und Schuttplätzen, oder neben den Feldern mit genmanipuliertem Mais wachen Artemisien, ein lästiges Unkraut, das in der Landwirtschaft bekämpft wird. Hat sie,  Una, einst die Erste, die Wirkungsvollste, die Mächtigste, noch die Macht gegen die Übel, die über das Land fahren? 

Walahfrid Strabo, der Abt des Klosters Reichenau, nennt sie im 9. Jahrhundert die "Mutter aller Kräuter“. Vertreterinnen der Gattung Artemisia wurden im alten China und in Ägypten, in Persien, dem antiken Griechenland und dem römischen Reich, bis hin zu den indianischen Kulturen Amerikas als wichtige Kräuter geschätzt, und das über lange Zeiten — in den Höhlen von Lascaux wurden rund 17000 Jahre alte Reste dieser Pflanzen gefunden. Artemisia ist das Kraut der Göttinnen, der römischen Diana, der ägyptischen Isis und besonders der griechischen Göttin Artemis, auf die der botanische Gattungsname "Artemisia" zurückgeht. Artemis, die Schöne, war die bedeutendste Göttin der Antike, ihr Tempel in Ephesus gehörte zu den sieben Weltwundern. Sie war, wie auch Isis, eine Göttin des Lichts, insbesondere des Mondlichts, Beschützerin der wilden Natur und besonders der Frauen. Sie half bei Geburten, brachte aber auch den Tod. 

Sie ist es, die dem Kentauren Cheiron, dem angeblichen Begründer von Chirurgie und Arzneikunde, die heilenden Artemisien übergibt, sie ist es, die ihn ursprünglich unterrichtet. Die mythischen Erzählungen verschleiern ebensoviel wie sie überliefern, aber mit etwas Logik lassen sich Stücke ursprünglicher Verhältnisse entschlüsseln. Das griechische Wort artemisia bedeutet "Unversehrtheit": Ein Hinweis auf die Jungfräulichkeit der Göttin, die in ihrer Macht nicht durch Heirat beschränkt ist, aber auch auf die Wirkung des Heilkrautes. Es regelt die Fruchtbarkeit, hilft bei Menstruationsbeschwerden und unterstützt Frauen mit seiner abortiven Wirkung bei ungewollter Schwangerschaft.  Doch auch bei ungewollter Kinderlosigkeit werden Artemisien angewendet. Heilkundige schätzen es als Mittel gegen Angst- und Schwächezustände, Depression oder Schlafstörungen. 

Die Göttin Artemis ist auch das beinahe vergessene Gegenüber ihres Zwillingsbruders Apollo, verdrängt durch das männlich selbstverliebte Gegensatzpaar apollinisch/dionysisch, das vor allem Nietzsche populär gemacht hat. Schöpferische Entwicklung entsteht in diesem Denken im Spannungsfeld von Apollo als Garant von Form und Ordnung und Dionysos als rauschhaftem Grenzüberschreiter. Exzess der Askese oder Exzess des Rausches, die Ernüchterung folgt beiden, die kalte harte Realität der Kopfschmerzen. Die weibliche Seite wird enteignet, verschwiegen und de facto aus dem Kulturschaffen ausgeschlossen. Selbst aus der Mythologie wird sie so weit wie möglich entfernt oder marginalisiert. Übrig bleiben Bilder von arglistigen, zänkischen oder hysterischen Frauen, die mann nicht ernst zu nehmen braucht. Nicht so Artemis, sie lässt sich nicht unterkriegen, sie bleibt unverheiratet, selbständig und bewaffnet, ihre Pflanzen sind bitter und heilsam. 

Die Bitterkeit, die uns im Alltag befällt, ist im Kraut der Göttin nur wohltuend. Bitterstoffe erinnern die Zellen an den Zustand der ursprünglichen Wildheit. Der ganze Körper wird wieder wach, lebendig, widerstandsfähig, fröhlich. Artemis-Diana, die Hüterin der Wildnis, beschützt die Wesen, die ihre eigene Wildheit leben. Wer sich entschließt, die Unterdrückung zu beenden und innere Freiheit wachsen zu lassen, ist auf dem Weg der Artemis-Diana.
— Luisa Francia

In Asien werden Artemisien nach wie vor hoch geschätzt. Die Anzahl der vorgeschlagenen Anwendungen ist überraschend breit gefächert: Fusswickel für müde Füße und zur Entgiftung, Augenmasken zur Entspannung und Straffung, Umschläge für den Rücken, Fuss-, Dampf- oder Sitzbäder bei Menstruationsbeschwerden oder Unfruchtbarkeit, Slipeinlagen, Cremen, Seifen und Gesichtsmasken, zum Räuchern und zur Moxibustion, dazu Tees und die ganz alltägliche Verwendung in der Küche als Gewürz und Gemüse. In der traditionellen Medizin finden sich neben den Hinweisen auf die Wirksamkeit gegen Wurmbefall und Verdauungsbeschwerden auch Rezepte mit Artemisien gegen Malaria und Krebs. Diesen Hinweisen geht nun auch die Schulmedizin vermehrt nach und Artemisien werden für die Medizin aufs Neue interessant. Im Jahr 2015 ging der Nobelpreis für Medizin an die chinesische Pharmakologin Youyou Tu, deren Arbeit von einer Heilpflanze der traditionellen chinesischen Medizin inspiriert wurde: Aus Artemisia annua, dem Einjährigen Beifuß, gewann sie die Substanz Artemisinin, die gegen Malaria wirksam ist.

Woher kommst du? Wohin gehst du? Kennst du den Weg? Was vorher war wird nachher sein. Wie eine Hand voll Wasser, die wir aus einer Schale schöpfen und wieder zurückfließen lassen: Es ist jedes Mal eine Hand voll Wasser, doch keine ist identisch mit der zuvor. Das Ende führt uns zurück an den Anfang und Artemisien begleiten uns. Sie sind Reisekräuter, sie unterstützen die Reisenden auf langen Fussmärschen, sie helfen beim Übertreten der Schwellen des Lebens bei Geburt und Tod, und sie unterstützen  die magisch Reisende. Sie vermitteln zwischen den Welten, machen die Grenzen der Welten durchlässig. Artemis, Una, die Bärin, ist die Hüterin der Schwelle. Die Schamanen Sibiriens und Nordamerikas räuchern mit Artemisien ebenso wie es die antiken Priesterinnen der Artemis taten, um sich zu reinigen, Dämonen zu vertreiben und sich mit Ahnen oder Geistern zu verbinden. Im Europa des Mittelalters und der Renaissance machte die Kirche Artemisien zu giftigen Hexenkräutern. Selbstbestimmte Weiblichkeit war in keiner Weise erwünscht, selbst die Erinnerung daran ging in den Flammen der Hexenverfolgungen auf. Es ist umstritten, ob Artemisien eine psychoaktive, also berauschende, Wirkung hat, viele Menschen spüren keinerlei Effekt. Als simple Rauschdroge sind Artemisien nicht geeignet. Bei manchen Menschen wirkt der Rauch der Artemisien subtil wahrnehmungs- und bewusstseinsverändernd, auch als Traumkraut das die Intensität der Träume und das Erinnerungsvermögen steigert.  

Eben diese subtilen Wirkungen wussten auch viele Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu schätzen, die sich vom aus Artemisien hergestellten, sagenumwobenen Absinth inspirieren ließen. Artemis im grünen Kleid, die grüne Fee huscht zur "Grünen Stunde" durch die Cafés und Gärten der Jahrhundertwende. Zu den bekanntesten Absinth-Liebhabern zählen Vincent van Gogh, Henri de Toulouse-Lautrec, Edouard ­Manet, Edgar Degas, Pablo Picasso oder Oscar Wilde. Charles Baudelaire trank ­damit gegen seine Schreibhemmungen an. Doch die grüne Fee kam bald in Verruf, bei Dauerkonsum, dem Absinthismus durch das enthaltene Thujon zu irreparablen Schäden des Körpers und des Zentralnervensystems zu führen. Inzwischen ist diese Theorie längst widerlegt: Die im Absinth enthaltene Thujonmenge reicht nicht aus, um toxisch zu wirken. Der wesentliche Faktor für die beschriebenen negativen Auswirkungen war der im Absinth enthaltene minderwertige Industriealkohol in Verbindung mit zweifelhaften Färbemethoden um das berühmte Absinthgrün zu erhalten. Das so gefürchtete Krankheitsbild des Absinthismus beschrieb oft nicht viel mehr als schweren Alkoholismus. Schließlich wurde der Konsum von Absinth wegen seiner angeblich schädlichen Wirkungen verboten. Die Kampagnen zum Verbot des Absinth zeigen genüsslich den Mord an der grünen Fee, der einstigen großen Göttin.  

Paradies, Fegfeuer, Sündenablass – die Verehrerinnen der Artemis-Diana konnten darüber nur lachen. Du bist Teil der Natur, Teil von allem und damit ohnehin unsterblich, ist die Botschaft der Göttin. Du lebst, dein Körper zerfällt, deine Energie sucht sich neue Orte. Deine Asche befruchtet Pflanzen, in denen du lebst, dein toter Körper wird von Tieren und Pflanzen zerteilt, aufgenommen und neu gestaltet. Artemis-Diana gibt keine Versprechen für ein Leben jenseits der Körperlichkeit. Ihre Botschaft ist: Beobachte die Wildnis. Sie setzt sich überall durch. Wenn der Mensch verschwindet, dauert es keine zweihundert Jahre, bis keine Spur mehr von Menschen zu sehen ist. Befreunde Dich mit der Wildnis und du lernst etwas über Geborgenheit, Wachstum und Tod. Beobachte die Wildnis, auch die Wildnis in dir selbst, und du lernst etwas über Freiheit und überschwängliche Lebenslust. Hör auf die Botschaft der Göttin: Lass dich nicht niederringen. Steh für deine Interessen auf und wehre dich. Lass die wilde Kraft aufsteigen, die in der Artemisia mit all den Bitterstoffen enthalten ist. Der Bogen, den Diana trägt, gilt nicht der Jagd. Nicht die wilden Tiere jagd sie, sondern die Unterdrücker, die Gewalttäter, die Zerstörer der Natur. Wer sich mit Artemis-Diana verbündet, verbündet sich mit der Natur und lässt nicht zu, dass die eigene wilde Kraft, die Natur in uns, zerstört wird.
— Luisa Francia