Überlegungen zu einer anderen Position, zentral im Abseits
Beiseite legen, aufheben, beiseite schieben, vergessen, verzichten, außer Acht lassen, begraben, für ungültig erklären, aufschieben, sich freimachen von, übergehen. Das sind die Übersetzungsmöglichkeiten, die translate.google.com für “to set aside” anbietet. Ich lese den Satz immer wieder, und ich spüre wie der Boden leicht erzittert unter dem gewaltigen, sanften und gleichzeitig präzisen Befreiungsschlag dieser Worte. Verstehe ich sie richtig? Und falls ich sie nicht richtig verstehe, ist das Missverständnis nicht umso besser? Ich lese das Zitat von Donna Haraway in einem ansonsten wenig interessanten Text, wenig später habe ich ihren Aufsatz gefunden: “Ecce Homo, Ain’t (Ar’n’t) I a Woman, and Inappropriate/d Others: The Human in a Post-Humanist Landscape.” Diese unwiderstehliche Kraft, grundlegende Positionen unaufgeregt beiseite zu schieben und Platz zu schaffen für etwas, zentral im Abseits, trägt den ganzen Aufsatz, bringt mich zum Grübeln über meine eigene Position: Dieses lebenslange Gefühl nicht betroffen zu sein, nicht gemeint zu sein. Brauchst du eine Extra-Einladung? Nein, aber ich brauche eine Einladung, die mich auch umfasst. In einem Denken, einer Welt aufgespannt zwischen Subjekt und Objekt, beide in die Welt geworfen, sind wir entweder unterworfen oder entgegengeworfen, beides eine recht unglückliche Position mit der ich mich nie verbinden konnte. Nie: das heißt schon im Kindergarten mit 5 Jahren.
Die Geste Haraways beeindruckt mich als Alternative zur Geste des Werfens und der Position des Geworfenseins, die das Denken beherrschen. Sie verwirft all das nicht, sie schiebt es beiseite, wie Möbel im Wohnzimmer, wenn man Platz braucht zum Malen, vielleicht auch zum Tanzen. Objekte, Subjekte, zur Seite.
Das Objekt, von lateinisch “obiectum”, bedeutet das Entgegengeworfene, Entgegengestellte, das, was sich unserem Blick zeigt, die Hindernisse auf unserem Weg und der Weg selbst, nicht aber das Selbst. Ich bin ein Objekt, für die Anderen. Für mich selbst nur in dem Moment, in dem ich mich von mir selbst distanziere, zum Anderen werde.
Das Subjekt, von lateinisch “subiectum”, bedeutet das Daruntergeworfene, das Unterworfene, das Beherrschte, den Gegenstand des Handelns. Ich bin ein Subjekt, für die Anderen. Für mich selbst nur in dem Moment, in dem ich mich von mir selbst distanziere, zum Anderen werde. Ist das Subjekt Objekt der Unterwerfung?
Wenn die grammatikalische Gegenwart so beschränkt ist, warum nicht den Blick nach vorne richten, uns der Zukunft entgegenwerfen? Der Möglichkeitsraum der Zukunft ist unendlich, wenn schon nicht im Diesseits, so sicher im Jenseits.
Das Projekt, von lateinisch “proiectum”, bedeutet das Vorausgeworfene, das Weggeworfene, den Entwurf und Blick in die Zukunft. Ich bin ein Projekt, für die Anderen. Für mich selbst nur in dem Moment, in dem ich mich von mir selbst distanziere, zum Anderen werde.
In “Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung” beschreibt Vilém Flusser die kulturelle Entwicklung der Menschheit als schrittweise Entfernung von der Lebenswelt. Flusser, der melancholische Optimist, sieht es als Befreiung der Subjekte von den Objekten. Menschwerdung bedeutet Entfremdung: Der Mensch ist nun ein Hinausgeworfener, ein Fremder, ohnmächtig, verloren und einsam. Indem der Mensch kommuniziert, Symbole und Codes schafft, so Flusser, kann die Kluft überbrückt werden. Bäume werden als Buchstaben lesbar, Buchstaben werden als numerische Codes berechenbar. Doch leider funktioniert das nicht: Der Wald wird Holz wird Geld, nie genug Geld. Leben, das ist mehr als nur ein paar Buchstaben, die man übersetzen kann, in andere Buchstaben oder in Zahlen.
Wir verlieren den Boden unter den Füßen. Für einen kurzen Moment entsteht der Endruck, die Geworfenen könnten fliegen, alles erreichen. Bodenlos, ohne Verbindung zur Erde, zu den Beschränkungen von Subjekt und Objekt, jeder der große Wurf seiner Selbst.
Das Projekt hat keine Gegenwart, wie Byung-Chul Han in “Im Schwarm: Ansichten des Digitalen” anmerkt, nicht einen Augenblick lang, es kann nur im Jenseits der Gegenwart existieren, als Entwurf, Vorwurf oder Auswurf. Das Subjekt unterliegt der (Selbst)Optimierung oder wird zum verworfenen Objekt. Einheiten, zählbar und austauschbar, irgendwo im irgendwann.
Ich kann weder Subjekt noch Objekt sein, ich, im Sinne von ICH, für mich, hier und jetzt und ohne zur Anderen zu werden, distanzlos in Ort und Zeit. ICH, hier und jetzt, ohne jede Geworfenheit. Der Fokus auf Gewinn, noch ehe von Kapitalismus die Rede war, hat die Gegenwart schrumpfen lassen: Das Jetzt hat 3 Sekunden, ein Sitz im Flugzeug 0,33 Quadratmeter. Weniger als ein Augenblick, ein Punkt, ein winziges Teilchen, getrennt von Allem, vernachlässigbar; eine Position, die grammatikalisch nicht vorkommt. Für jene, die ihren Ort besitzen und möglichst schnell verlassen wollen; die ihre Zeit totschlagen, sparen und verkaufen; für die Verbundenheit Kontrolle bedeutet existiert ICH nicht. Wurmloch und rabbit hole zugleich; winzig, doch unendlich groß. Da ist genug Platz, nicht jenseits, nicht im Jenseits, sondern wenn Subjekt, Objekt und Projekt entschieden und vorsichtig beiseite geschoben werden. Dort, an der Seite können sie bleiben, wie aufwendig gearbeitete Rüstungen, die als staubige Erinnerungen weder Schrecken noch Sicherheit vermitteln.
Die Sprache baut Wege des Denkens. ICH mache mich auf die Suche nach den neuen Namen, nach jenen Worten, die unserer Sprache fehlen und ohne die wir nur schweigen können. In “Braiding Sweetgrass” erzählt Robin Wall Kimmerer von Potawatomi, einer Sprache, die ihre Muttersprache sein hätte können. Im Unterschied zu den meisten europäischen Sprachen ist Potawatomi eine Verb-basierte Sprache und unterteilt die Welt nicht in männlich und weiblich, sondern in belebt oder unbelebt, und das betrifft sowohl Substantive als auch Verben. Unterschiedliche Verbformen, unterschiedliche Pluralformen, völlig andere Worte, je nachdem, ob das, wovon ich spreche, lebendig ist oder nicht. ICH stelle mir vor, dieser Sprache mächtig zu sein, die Fähigkeit zu besitzen, lebendige Geschichten zu erzählen. Eine adequate Übersetzung dieser Sprache ist ebensowenig möglich wie eine Übersetzung von Bäumen in Buchstaben, doch hier, querfeldein, tauchen neue, fehlende Begriffe auf. Wie davon schreiben, wenn ICH keine Worte habe? Worte Geschlechter haben, aber kein Leben? Was bedeutet es, dass der Topf männlich ist und die Pfanne weiblich? Ist diese Kommunikation nicht notwendig unvollständig und irreführend?
Welche Sprache brauchen wir, um vom Leben, von Verbindung und Miteinander zu sprechen? Wer sind wir, wenn wir uns nicht mehr in die Sprache der durch Tätigkeit verbundenen Einheiten fügen? ICH tappe im Dunkel, versuche zu begreifen, während mir Wörter wie Sand durch die Finger gleiten. Halt. Wissenschaft, Kunst, Philosophie; Humanismus, bin ich ihnen nicht zutiefst verbunden, Teil der Kultur, der Diskurse?
Lange Zeit wollte ich mich weder mit diesen Fragen auseinandersetzen, noch an meiner Verbundenheit zweifeln. Doch diese Verbundenheit ist mir gegenüber brüchig, wie die zu einem geliebten Haustier. Egal welche Privilegien es hat, es wird niemals frei sein, es wird niemals gleichberechtigt sein, den eigenen Namen wählen oder im Familiengrab beigesetzt werden. In einer patriarchalen Gesellschaft geboren, war selbst etwas so Persönliches wie mein Name immer vorläufig und verhandelbar, ein Besitzanzeiger. In der Standardausgabe des Humanismus bin ich gar nicht oder nur als subjektives Objekt dabei. So gesehen fällt loslassen nicht schwer.
Ekstase, das Aus-sich-Heraustreten, sich mehr Platz verschaffen. Ekstatische Stimmen, die die Enge der Gegenwart ausdehnen und Bewegung wieder möglich machen, Stimmen, Worte erfinden, die fehlen und mit diesen neuen Worten alte Geschichten erzählen. Nicht die alten Geschichten von Beschäftigung und Wirtschaftswachstum, sondern jene vom Wachstum und der Verbindung der Lebendigen. Hören wir die Schritte, die Vögel und die Bäume. Diese ekstatischen Stimmen sind weder Subjekt noch Objekt, sie brauchen einen neuen Begriff.
Das Konjekt, ein fehlender Begriff, von lateinisch “coniectum”, bedeutet das Zusammenwerfen und Verbinden, das Hinströmen, das Vermuten und durch Handeln verbinden. Das ICH in Verbindung. Der Begriff Konjunktur, dem lateinischen Ursprung des Wortes nahe, könnte alternativ als Grad der Verbundenheit interpretiert werden, weit über die geldwirtschaftliche Lage und kurzfristige Moden hinaus.
Literatur:
Vilem Flusser: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, 1994
Donna Haraway: Ecce Homo, Ain’t (Ar’n’t) I a Woman, and Inappropriate/d Others: The Human in a Post-Humanist Landscape, 2004
Byung-Chul Han: Im Schwarm. Ansichten des Digitalen, 2013
Robin Wall Kimmerer: Braiding Sweetgrass: Indigenous Wisdom, Scientific Knowledge and the Teachings of Plants, 2015