Ich schreibe am Weg nach Wien, nach Athen, nach Delphi, im Flugzeug, nachts, im Cafe. Es ist regnerisch und grau. Der Schuppen gegenüber der Wiener Startbahn ist eine ferne Erinnerung an jene Tempel, die nur hölzerne Schuppen waren. Auf dieser Reise verbinden sich Begriffe, die vorher weit voneinander entfernt waren, zu einem dichten Netz. Anarchie, Natur, Freiheit, Wildnis, Feminismus. Die Reise nach Athen wird zu einer Spurensuche. Resizing Artemis: Was bedeutet es, der Göttin wieder Größe zu geben, einer Göttin, die noch ferner und verschwundener scheint als andere.
Hier, in den Straßen von Exarchia, gewinnt Artemis wieder an Bedeutung. Anarchisch, aus den Tiefen der Geschichte, zeigt sich Artemis, Göttin und Archetyp einer freien und selbstbestimmten Existenz. Dabei geht es um Frauen: Weiblichkeit zeigt sich selten absolut und unabhängig, sondern so gut wie immer bezogen auf eine männlichen Welt. Zieht sich eine Frau in ein Gebiet zurück, das für Männer nicht zugänglich ist, wird sie schnell als arme Verliererin, Hexe oder Verrückte wahrgenommen. Und doch betrifft es eben nicht nur Frauen. Die Abwesenheit von Herrschaft ist notwendig mit der Abwesenheit von Unterwerfung verbunden. Schon das Wort Anarchie ruft oft negative Assoziationen hervor. In den herrschenden kulturellen Erzählungen, in Filmen, Zeitungsberichten oder Büchern ist sie mit Chaos und Gefahr verwoben, mit brennenden Mülltonnen, eingeschlagenen Scheiben und mit Graffiti beschmierten Häusern. Die Herrschaft der Klischees konnte Exarchia nicht abschütteln. Anarchisten und Frauen brauchen neue Bilder an Stelle jener, die sie seit Jahrtausenden in Schach halten, ihnen ihren Platz zuweisen und zeigen, was mit ihnen passiert, wenn sie die Regeln nicht befolgen. Im Diesseits ist genug Platz für die Hölle, im Jenseits ohnehin.
“The myth even makes her a goddess whose beauty should not be exposed to human sight, as if to signify that this beauty should not be exposed to human sight, as if to signify that this beauty exists for itself. The myths associated with Artemis suggest that one may hear her or sense her presence, but that it is dangerous to violate her, even with the eyes.”
Zurück zu Artemis: In einer Zeit, in der die Jagd immer unwichtiger, immer mehr zu einem verwerflichen Zeitvertreib der Superreichen wird, verschwindet da nicht auch - zurecht - das Interesse an einer Göttin der Jagd? Schon lange leben wir nicht mehr im Paradies, wo Nahrung frei verfügbar ist, selbstbestimmt sammeln, fischen und jagen selbstverständlich ist. Über Jahrhunderte ist das Jagdrecht ein Austragungsort von erbitterten Herrschaftskonflikten. Ist Artemis die Göttin der Wilderer?
Delphi. Es riecht nach Thymian, selbst jetzt im Winter. Olivenbäume, Bienenstöcke, eine Ziegenherde. Wo die Spuren brachliegender Landwirtschaft in die Wildnis übergehen, da ist Artemis daheim.
“Jetzt wird sie mich trösten, dachte ich bei mir, sie wird ihre ganze Macht zeigen, sie wird mir beistehen. Mein Schmerz ist ja auch ihr Schmerz – ich sah sie an. Ich erschrak. Ihr Gesicht war hart und streng. Sie zog die Brauen zusammen. Sie antwortete: So ist das also mit dir. Du hast deinen alten Wald gesucht, und er war nicht mehr da. Und deshalb weinst du. Du wolltest deine Wildnis wiederfinden, deine eigene alte Wildnis, und du findest ein Baugelände.”
Artemis tröstet nicht, sie beobachtet, wie Städte wachsen, wo einst Wälder waren, und sich die Wälder schließen, wo einst Städte waren. Es ist einfach den Begriff der Wildnis auch auf die zerborstene Oberfläche der Stadt zu übertragen, aus der das erste Grün sprießt. Bäume werden wachsen, Tiere werden kommen. Was wir heute als Urwald (virgin forest) bezeichnen, war früher der Wald der Artemis (virgin’s forest). Diese beiden Ausdrücke bezeichnen eine Natur, die der Mensch nicht beherrscht. In der Antike schien es wichtig eine Natur zu verehren, die nicht zur Nutzung bestimmt ist. Im Gegensatz zu dieser Haltung ist die heutzutage am weitesten verbreitete Meinung, dass ein Bereich, der nicht ausgebeutet wird oder sich der Nutzung entzieht, einfach wertlos ist. Es ist ruhig in den Straßen von Exarchia. Doch es ist die Ruhe vor der Säuberung, die aus dem wilden Viertel der Anarchie Kapital schlagen wird, so wie die heiligen Haine der Artemis abgeholzt wurden um Kriegsschiffe zu bauen. Als Göttin der Wildnis ist Artemis am unmittelbarsten mit der gegenwärtigen ökologischen und ökonomischen Debatte befasst. In Exarchia zeigt sich die apollinisch tödliche Struktur der Ordnungsmacht.
“Nature, flora and fauna, is universally exploitable and commercializable, and since women are associated with nature, they have also become touchable, violable, and utilizable.”
Zurück in Athen (be)suche ich das Heiligtum der Artemis Agrotera am Fluss Ilisos. Beide sind verschwunden, Säuberungsaktionen zum Opfer gefallen. Der Tempel von Osmanen zerstört, der Fluss, an dem in der Antike Nymphen badeten, ist mit Straßen überbaut. Das Wasser ist nicht nur nicht mehr trinkbar, sondern auch unsichtbar geworden.
“If we wish to honor Artemis once more, we shall have to stop neglecting and poisoning the water of the mountains and streams, perhaps even allowing this water to enter our villages, towns, and cities, no longer confounding these waters with the waters of drains and ditches. Perhaps, afterward, the nymphs, naiads, and nereids would return to inhabit our imagination and teach us the necessary respect for the waters of Artemis.”
Beim Aufbau der Ausstellung kommt sie dann plötzlich zum Vorschein: Hinter vielen Schichten von Schildern ein Schriftzug aus den 1960ern, Artemis.