Gaia

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Wie von der Erde sprechen

Überlegungen zu Bruno Latours “Kampf um Gaia”

“Wie von der Erde sprechen?” 2020, Acryl & Sprayfarbe auf Papier

Es hört nicht mehr auf, jeden Tag geht es von vorne los. An einem Tag ist es der Anstieg der Gewässer; am nächsten das Unfruchtbarwerden der Böden; abends geht es um das beschleunigte Verschwinden des Packeises; in den Fernsehnachrichten erfahren wir zwischen zwei Kriegsverbrechen, dass tausende von Arten verschwinden, noch bevor sie ordnungsgemäß registriert werden konnten; jeden Monat liegen die CO2-Werte in der Atmosphäre noch höher als die Arbeitslosenzahlen; jedes Jahr erfahren wir, dass es das wärmste seit dem Beginn der regelmäßigen Messungen ist; der Meeresspiegel steigt unaufhörlich; die Frühjahrsstürme bedrohen die Küstenregionen immer stärker; der Ozean erweist sich bei jeder Untersuchung als saurer. In den Zeitungen heißt es: Wir leben in der Epoche einer ‚ökologischen Krise‘.
— Bruno Latour

Hier, im Süden Spaniens, ist das Anthropozän Alltag, offensichtlich, unausweichlich und erschütternd. Ein paar Kilometer von hier, in Sichtweite, beginnt das ‘mar de plastico’, für das die ehemals pittoreske Hügellandschaft niedergewalzt wurde, draußen im Meer Fischfarmen, dazwischen die Ruinen geplatzter Bauunternehmungen. Vor ein paar Wochen hat das Sturmtief Gloria die spanische Küste getroffen und für ein paar Stunden Schnee bis in den Nachbarort gebracht, heute verteilt ein warmer, böiger Südwestwind roten Sand aus der Sahara. Erst vor einer Woche, beim Kaffeetrinken am Strand von Villaricos, habe ich von den Atombomben gehört, die hier 1966 nach einem Flugzeugabsturz ein halbes Kilo Plutonium in der Gegend verloren.

Während all das auf mich einwirkt lese ich Bruno Latours neues Buch “Kampf um Gaia”, hervorgegangen aus acht Vorträgen, die er schon 2013 an der Universität von Edinburgh gehalten hatte. Die Lektüre fesselt und überrascht mich. Ganz langsam baut Latour Brücken zwischen den Disziplinen der Wissenschaft, Religion und Politik, zeigt verborgene Verbindungen und Denkverbote auf, die vieles an unserer verworrenen Situation erklären. Das dualistische Denken kann die Welt nicht mehr begreifen, was unser gesamtes Handeln und Denken in Frage stellt. Die opportunen Begriffspaare von Natur und Kultur, Mensch und Tier, gewachsen und gemacht, ewig und vergänglich und viele mehr enthüllen ihre Gemengelage. Die Natur, verlässlich, unveränderlich und manchmal auch unberührt, gibt es nicht mehr. Hat es sie je gegeben? Die ökologische Krise ist nicht nur eine Krise der Natur, sie ist in gleichem Ausmaß eine Krise der Kultur. Es gibt keine Natur, die der Menschenwelt gegenübersteht. Diese ununterscheidbare Vermischung von Natur und Kultur, von natürlich und künstlich zu hybriden Objekten beschäftigt mich seit Jahren. Wir leben inmitten eines komplizierten Netzwerkes aus zahllosen Dingen und Lebewesen, in dem jeder alle anderen beeinflusst. Damit ändert sich alles.

Es gibt nicht mehr genug Objekthaftes, sich den Menschen entgegenzusetzen, nicht mehr genug Subjekthaftes, sich den Objekten entgegenzustemmen. Alles deutet darauf hin, dass hinter der Phantasmagorie der Dialektik die metamorphische Zone wieder sichtbar wird. Als tauche unter der “Natur” die Welt wieder auf.
— Bruno Latour

“Wie von der Erde sprechen?” 2020, Acryl & Sprayfarbe auf Papier

Und dann schreibt Latour das Unglaubliche:

Mag die offizielle Wissenschaftsphilosophie auch den zweiten Weg, den der Entseelung, als den einzig wichtigen und rationalen auffassen: das Gegenteil trifft zu. Die Beseelung ist das wesentliche Phänomen, und die Ent-seelung ist ein oberflächliches, hilfsweise eingesetztes, polemisches und oft apologetisches. Eines der größten Rätsel der Geschichte des Okzidents besteht nicht darin, “dass es noch immer Leute gibt, die naiv genug sind, an den Animismus zu glauben”, sondern in dem eher naiven Glauben vieler Menschen an eine angeblich unbeseelte “materielle Welt”.
— Bruno Latour

In einer Welt, in der noch darüber diskutiert wird, ob Tiere und Pflanzen so etwas wie Bewusstsein haben, ja Tieren nicht einmal Emotionen zugeschrieben werden, da spricht jemand von Seele. Das erfordert Mut. Die Kritiker stehen schon bereit zum Angriff: “Weitschweifig”, “nicht sonderlich originell”, aber gleichzeitig “weit hergeholt” (Eckart Löhr) und “eleganter Unsinn” lese ich da, oder “schade um die Bäume” (Marko Martin). Doch keine der Kritiken, gleichgültig ob negativ oder positiv, erwähnt den Begriff der Seele. Als wäre es unmöglich von der Seele zu sprechen - doch während ich noch über den Umgang damit nachdenke, wird mir klar, dass der blinde Fleck wohl zentral ist. Und mich in Folge noch weiter beschäftigen wird.

Latour stellt in seinem Text viele Fragen. Fragen, die mir vertraut erscheinen, und doch noch nicht beantwortet sind. Fragen, die sich in meinem Kopf festsetzen, die ich wiederhole, immer wieder und wieder, während ich durch die Landschaft gehe, auf das Meer schaue, während ich male. Sie werden zur Basis meiner Arbeiten.

Wenn tausend Formen von Handeln die Erde beseelen, warum hat man sie sich dann als wesentlich leblos und unbeseelt vorstellen wollen?
— Bruno Latour

“Wie von der Erde sprechen?” 2020, Acryl & Sprayfarbe auf Papier

Wie kann man von der ERDE sprechen, ohne sie als ein integrales Ganzes zu behandeln, ohne ihr eine Kohärenz zuzurechnen, die sie nicht hat, und zugleich auch ohne ihr das Leben abzusprechen, indem man die Organismen, die die dünne Hülle der kritischen Zone am Leben erhalten, zu trägen, passiven Elementen eines physikalisch-chemischen Systems herabsetzt?
— Bruno Latour

Gaia tritt auf, zugleich antike Göttin, literarische Figur, wissenschaftliche Hypothese, Körper und Tatsache. Noch habe ich das James Lovelocks Gaiatheorie nicht gelesen, folge also den Beschreibungen von Latour, der sich damit noch tiefer in die mit Bann belegten Themen wagt. Schon in den den 1960er Jahren fragt Lovelock, woran man Leben erkennt, was den Zustand des Lebens von dem des Todes unterscheidet. Und erkennt, dass das Thema zu den wissenschaftlich kaum erforschten gehört. In den meisten Fällen erkennen Menschen unmittelbar, ob etwas am Leben ist oder nicht. Ist es also gar kein Thema? In der Kunst ist es das: Die Versuche Leben täuschend echt darzustellen oder die Grenze von Nachahmung zur Belebtheit zu überschreiten gehören zu den beliebtesten Mythen künstlerischer Meisterschaft. Wenn es so leicht fällt, lebendige Wesen zu erkennen, warum also ist es in Sachen der Erde mit einem Tabu belegt?

“Wie von der Erde sprechen?” 2020, Acryl & Sprayfarbe auf Papier

(...) kein oberster ENDZWECK hervor, sondern schlicht ein wüstes Gewirr. Dieses Gewirr ist GAIA.
— Bruno Latour

Verwirrung. Zu viele Stimmen, alle gleichzeitig, gleichberechtigt, gleich laut. Leben heißt im Ungleichgewicht zu sein, in Bewegung, Unruhe, Unordnung, die aufrecht erhalten wird. Während ich schreibe macht sich der Frühling bemerkbar. Es hat mehr geregnet als in den letzten Jahren und die Hügel leuchten grün, bunte Blumen überall. Draußen am Meer kann ich Delphine sehen. Sind sie ein Zeichen für die Gesundheit des Meers oder werden sie von der Fischfarm angezogen? Kann der Mensch die Zeichen noch deuten?

GAIA hebt die Ebenen auf. Es gibt in ihr nichts Untätiges, nichts Wohlgesinntes, nichts, was ihr äußerlich wäre. Klima und Leben haben sich gemeinsam entwickelt, der Raum ist nicht ihr Rahmen, nicht einmal ihr Kontext: Der Raum ist das Kind der Zeit. Der Raum, in dem wir wohnen, nämlich die kritische Zone, ist genau der, zu dem wir beitragen; er dehnt sich ebensoweit aus wie wir; wir dauern solange wie die, die uns ermöglichen zu atmen.
— Bruno Latour

Das Stabile, Selbstverständliche, immer und ewig Verfügbare, ist, wissenschaftlich betrachtet, ein Ungleichgewicht. Die Luft, die wir atmen, dürfte gar nicht da sein. Seit Jahrtausenden liegt der Sauerstoffgehalt bei stabilen aber unwahrscheinlichen 21 Prozent. Schon geringe Schwankungen machen das Leben schwer, wie aber kann es sein, dass diese nicht auftreten? Für Lovelock ist dieses Ungleichgewicht ein eindeutiges Zeichen von Leben, von belebtem Eingreifen. Die Atmosphäre der Erde wird gemacht und erhalten, und sind Teil dieses Systems, Teil von Gaia.

GAIA dagegen scheint für unser Handeln äußerst sensibel zu sein und auf das, was SIE registriert und verspürt, extrem rasch zu reagieren.
— Bruno Latour

“Wie von der Erde sprechen?” 2020, Acryl & Sprayfarbe auf Papier

Eine belebte Welt, eine Erde, die unter den Schritten vibriert, keinerlei wiedererkennbare Landschaft, keinerlei anerkannte Autorität, ein fürchterliches Gemisch, Hybride in Hülle und Fülle, zusammenhanglose Elemente aus Wissenschaft, Industrie und Technik.
— Bruno Latour

Die Arbeit am Text, an den Bildern wird zum Tagebuch einer eskalierenden Situation. Krankheit, Tod, Ausgangssperren. Der Coronavirus enthüllt eine Welt zwischen Schockstarre und Panik. Ich bin gestrandet. Die Worte Latour, die ich seit Wochen umkreise, gewinnen erschreckende Aktualität.

Wären wir in einer normalen Situation, hätte uns der geringfügigste Alarm hinsichtlich des Zustands der ERDE und seiner Rückkopplungsschleifen bereits mobilisiert, wie es Fragen der Identität, der Sicherheit oder des Eigentums bei uns immer tun. (...) Warum sind wir nicht in einer normalen, banalen, weltlichen, alltäglichen Situation?
— Bruno Latour

“Wie von der Erde sprechen?” 2020, Acryl & Sprayfarbe auf Papier