Becoming Forest Yourself (Daphne)

Zur Ausstellung im puuul 22. Juli bis 27. August 2022

Ein Gott verfolgt eine Nymphe, die er begehrt, über Stock und Stein; und sie entzieht sich, indem sie sich in einen Strauch oder Baum verwandelt (denn der Lorbeer kann beides sein) – mehr passiert eigentlich nicht in dieser kleinen mythologischen Geschichte von Apoll und Daphne, die Ovid in seinen »Metamorphosen« erzählt.
— Burkhard Müller: Apoll und Daphne - Geschichte einer Verwandlung

Es ist nur eine kleine mythologische Geschichte, eine Liebesgeschichte noch dazu, die nicht glückt und in der auch nicht viel passiert. Für seine Zusammenfassung der Geschehnisse würde der Lateinprofessor Müller jedenfalls keine Bestnoten bekommen, auch wenn er damit voll im Mainstream liegt. Die verharmlosende Darstellung sexueller Übergriffe sind so alltäglich, dass sie schon beinahe nicht auffallen. Doch dieses Missverhältnis ist nicht der einzige Grund für meine Auseinandersetzung. Dieser liegt in der völlig übersehenen machtpolitischen Bedeutung der sogenannten Vorgeschichte, deren gewaltsame Beendigung so oft in Mythen verarbeitet wird.

Wenn wir Ovids »Metamorphosen« so auf fassen, zeigt er uns durch das schmale Fenster seiner Geschichten eine Perspektive in die Tiefen der Epochen: ein Jahrtausend, das ihm vorausgeht, seit die antike Kultur allmählich aus den Dark Ages aufgetaucht ist und ihre Formen entfaltet hat; zwei Jahrtausende, die ihm seither gefolgt sind bis zu unserer eigenen Gegenwart. (...) Alles, was noch älter ist als jene drei Jahrtausende, besitzt für uns nicht mehr denselben Zauber der Kontinuität und gehört mit Fug und Recht zur Vorgeschichte.
— Burkhard Müller: Apoll und Daphne - Geschichte einer Verwandlung

Was also geschah vor 3000 Jahren, an der Schwelle der Geschichte, in Delphi, dem Mittelpunkt der griechisch-antiken Welt, wo Daphne und Apoll einander treffen?

Es beginnt mit der Ermordung der geflügelten Schlange Python, Kind der Gaia und hellseherische Beschützerin des delphischen Orakels. Geschickt betont Ovid die Rechtmäßigkeit der Heldentat, indem er die Schlange zum ungewollten Kind der Gaia und zur Bedrohung der Menschen erklärt.

Zwar wollte sie diese nicht – doch brachte sie damals auch dich, riesiger Python, hervor; für die neue Bevölkerung warst Du, unbekannte Schlange, etwas Schreckliches, soviel Raum nahmst Du an Masse ein.

Diesen – er war von tausend Pfeilen getroffen und sein Gift lief aus schwarzen Wunden aus – tötete der bogenführende Gott, der solche Waffen bisher nur für flüchtige Gemsen und Rehe benutzt hatte; sein Köcher war fast leer.
— Ovid

Der jugendliche Held, voller Stolz wegen des Sieges über die Schlange, verhöhnt Amor, der sich mit einem Liebespfeil in Apolls Richtung revanchiert: Völlig entlastet von jeder Verantwortung entbrennt der mächtige Gott in Liebe zu Daphne. Doch sie, Jägerin, Nymphe, Priesterin der Gaia oder einfach selbstständige Frau, will von keinem Mann etwas wissen, auch wenn das nicht einfach durchzusetzen ist.

Viele haben sich um sie bemüht, doch sie blieb abgeneigt, duldet die Bewerber nicht und durchstreift ohne einen Mann die abgelegenen Wälder; auch kümmert sie weder Ehe, noch Liebe, noch Beischlaf.
— Ovid

Doch Frauen können nicht (mehr) für sich stehen, sondern sind Eigentum der Männer, Väter, Ehemänner, Söhne. Ehe und Fortpflanzung sind ihre Pflicht, freie Bewegung oder Entscheidungen sind für sie nicht vorgesehen. Doch es gibt ein Schlupfloch: das Gefolge der Jägerin Artemis/Diana.

Auf Diana beruft sich Daphne denn auch ihrem Vater gegenüber; und der ist weichherzig und schwach genug, es ihr zu gewähren.
— Burkhard Müller: Apoll und Daphne - Geschichte einer Verwandlung

Der Vater gesteht Daphne widerwillig Unabhängigkeit zu, was der Lateinexperte als Schwäche auslegt. Doch dem Apoll ist ihre Meinung völlig gleichgültig. Sie flüchtet, er redet: von seiner Macht, seiner Herkunft, seiner Liebe, er schmeichelt und droht; sie läuft bis zur Erschöpfung. Als letzten Ausweg sieht sie nur die Möglichkeit sich der Schönheit zu entledigen, die sie in diese Lage gebracht hat.

Zerstöre die Gestalt, in der ich allzusehr Gefallen erregt habe, durch eine Verwandlung.

Kaum ist die Bitte ausgesprochen, befällt eine schwere Starre die Glieder, die weiche Brust wird von zartem Bast umschlungen, die Haare werden zu Laub, die Arme zu Zweigen, der eben noch so flinke Fuß bleibt in zähen Wurzeln stecken, das Gesicht trägt einen Baumwipfel: Es bleibt ihr als letzter Rest von Schönheit.

Auch so liebt sie Apoll und seine rechte Hand, die er an den Stamm gelegt hat, spürt noch immer das Herz unter der frischen Rinde beben. Nachdem er die Zweige wie Glieder mit seinen Armen umfangen hat, gibt er dem Holz Küsse; das Holz freilich weicht den Küssen aus.
— Ovid

Daphne entzieht sich dem Übergriff radikal - sie schlägt Wurzeln, verholzt, wird zur Pflanze, zum Lorbeerbaum. Und trotzdem wird sie zur Beute, wenn nicht als Frau, so doch als Baum, Material und Zeichen zugleich. Als Lorbeer wird die besiegte Daphne zum Symbol für männliche Macht - bis heute. “(…) mehr passiert eigentlich nicht in dieser kleinen mythologischen Geschichte von Apoll und Daphne (…)”. Die Liebesgeschichte maskiert die Geschichte der Machtübernahme des Sonnengottes über das Orakel in Delphi, jenem Ort, wo die antike Welt Rat suchte. Damit sind die Macht und damit einhergehende Faszination des Medienmoguls Apoll bis heute gewährleistet. Er wird zum wandlungsfähigen Vorbild von Ludwig XIV. bis Jeff Koons. Die Verachtung der Erde inklusive - nicht umsonst tragen diverse “Raummissionen” den Namen Apollos, und so ist es auch kein Zufall, dass gleichzeitig mit Koons Ausstellung “Apollo” im Schlachthaus auf Hydra seine Kunstwerke ins All geschickt werden (sollen).

How To Become A Tree (Daphne), Ausstellungsansicht 2022, Foto Matthias Nemmert

Ein Streich von Eros, eine Parabel über die Macht der Liebe, oder doch, die Liebe zur Macht? Eine Geschichte kaschiert eine andere: Die Liebesgeschichte übertönt die Geschichte der Unterwerfung der Gaia,der gewaltsamen Übernahme der Ressourcen und ihrer Verfügbarmachung,bis zur Zerstörung: eine fatale Niederlage der Erde. Wo Ovids Geschichte der Daphne endet, dort beginnen viele neue Erzählungen, Interpretationen und das Anthropozän. Die Geschichte der Daphne bleibt präsent als Samenkorn, bereit zur Keimung.

How To Become A Tree (Daphne), Ausstellungsansicht 2022, Foto Matthias Nemmert