Momente des Gelingens

Überlegungen zu KLASSE KUNST - Gemischte Gefühle von Dagmar Höss & Astrid Hofstetter in der Landesgalerie Linz

Gemischte Gefühle. Die Schritte hallen ein wenig im Raum. Der breite, steinerne Stiegenaufgang der Ladengalerie Linz hilft den BesucherInnen in die angemessen ehrfürchtige Haltung wie in einen gut geschnittenen Mantel. Gedämpfte Stimmen. Die Architektur vermittelt die unkomplizierte Sicherheit des 19. Jahrhunderts, dass im Museum - und überhaupt - die Welt geordnet werden kann. Von Stufe zu Stufe schwinden innere Widerstände und Skepsis,

frei vom Gefängnis des Alltags, frei vom Gefängnis der konventionellen Aufmerksamkeit, frei von Rücksichten kann und darf man die Welt betrachten.
— Horst Rumpf: Die Gebärde der Besichtigung.

Vorfreude und Kontrollverlust setzen ein, eine Trance des Passiven. Das also kann das Museum. Kein Wunder, wenn die Besucherzahlen steigen und wenn das Museum eines der populärsten bürgerlichen Genussmittel der Gegenwart ist. Doch Museen sind Mikrokosmos mit zahllosen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, kleinen Ritualen und sozialen Codes, die es zu beherrschen gilt. In ihnen, folgt man Pierre Bourdieu, wird nicht nur soziales Kapital erworben, sondern man bedarf bereits dieses Kapitals, um den exklusiven Ort zu betreten, und selbst steigende Besucherzahlen können darüber nicht hinwegtäuschen. Die Formen dieser Exklusivität deutet Michael Matthes an, wenn er, optimistisch aber unrichtig, meint,

dass es (das Museum) keine Einschränkungen für seinen Besuch kennt, außer der Forderung nach selbständiger Bewegungsfähigkeit, nach Rücksicht auf andere Besucher, dem Verbot die ausgestellten Gegenstände zu berühren und weder Tiere noch Spielzeuge und Esswaren sowie Getränke in die Ausstellungen mitzunehmen.
— Michael Matthes: Das Museum - mehr als ein Ort der Wissensvermittlung.

Das Museum ist kein Kindergarten. Was nach maximaler Offenheit klingt, beschränkt den Besuch jedoch auf jene, die sich in diesem Umfeld zu bewegen wissen. Das Verhalten in Ausstellungen folgt eingeübten Handlungsabläufen, von Gesten und subtilen Hinweisen gesteuert, deren Befolgung durch die wechselseitige Beobachtbarkeit und das Aufsichtspersonal sichergestellt wird. Museen sind Orte umfassender Disziplin und Disziplinierung, sie schaffen Ordnungsmuster, die ihre BesucherInnen kognitiv und körperlich prägen und zu kulturellen “Selbstverständlichkeiten” werden. Die Bewegungen der BesucherInnen folgen einer Choreographie der Neugierde, ein Blick hier und da, dem Exponat nicht zu nahe kommen.

Üblicherweise weiß man, wann man, bei welchen Objekten (...) diesen Blick und die ihm entsprechende Gestimmtheit gewissermaßen anzuknipsen hat; man weiß, wo man in die Gebärde der Besichtigung zu verfallen hat - und wo nicht.
— Horst Rumpf: Die Gebärde der Besichtigung.

Nichts berühren! Nicht berührt werden! In Untersuchungen zum Besucherverhalten zeigte Erving Goffman, dass BesucherInnen durch die Position und Körperhaltung, die sie in Bezug auf ein Ausstellungsstück einnehmen, anderen anzeigen, womit sie sich gerade beschäftigen und auf diese Weise auch einen Raum in der Ausstellung besetzen, den andere nicht ohne weiteres betreten können. “Rücksicht” zu nehmen verlangt, diese Regeln zu kennen und zu beachten. Für den Unwissenden bleibt das Museum verschlossen.

Das stellt die Vermittlung vor eine zweifache Herausforderung: Zunächst gilt es einerseits die Herausbildung von traditionellen Handlungsmustern zu unterstützen, um eben auch nicht von vornherein mit dem nötigen sozialen Kapital ausgestatteten Besuchergruppen den souveränen Zugang zu ermöglichen, das wiederkehrende, ritualisierte Verhalten einzuüben, andererseits aber auch genau diese Verhaltensmuster aufzubrechen und so neue Zugänge zu schaffen. Das Museum als Lernort, und als Ort an dem Faktenwissen vermittelt, dieses Wissen hinterfragt und neu verhandelt wird. Die Aufgabe erscheint paradox und ist fast unmöglich zu bewältigen. Wie ist es möglich, gleichzeitig mehrere Positionen zu vertreten, anzusprechen, verschiedene Herangehensweisen in einer Ausstellung zu vertreten, uneinheitliche Befehle zu erteilen?

Und dann, sobald man die hohe, schwere Tür zur Ausstellung öffnet: Schock. KLASSE KUNST ist für den Betrachter ein hoch kompliziertes Gebilde: Was ist Kunst, was Vermittlungsprogramm? Knallorange die Wand, Neonleuchten. Die Ausstellung ist laut, grell, herausfordernd. Wo bin ich hier? Was ist zu betrachten, was nicht? Und wie? Mit welchem Abstand, wo braucht es Ruhe, wo ist Diskussion gefordert, wo soll man zugreifen, wo die Finger davon lassen? Welche Kunst ist offen für den handgreiflichen Gebrauch, was gehört zum Vermittlungsprogramm? Soll man die CD-Player betrachten oder starten, ist dieser Lärm im Museum angebracht, darf ich jetzt Musik hören, und wenn, nur diese oder auch andere? Gemischte Gefühle. Laut, unübersichtlich, grellbunt. Alles ist miteinander verbunden, ergänzt und widerspricht einander. Zwischen den Portraits auf verspiegelten Wänden schaut man sich selbst ins Gesicht. Dumpfes Stimmengewirr, ein Chaos der Verweise. Und doch, ein großes Ganzes, in dem die einzelnen Bestandteile nicht als Beleg oder Illustration einer übergeordneten Idee dienen, sondern miteinander vielschichtig und durchaus auch widersprüchlich kommunizieren. Kennst Du das?

Die Ausstellungen der Reihe KLASSE KUNST sind ungewöhnlich. Mit ihnen verschieben Dagmar Hass und Astrid Hofstetter die üblichen Grenzen des institutionellen Ausstellungsbetriebes. Jede der Ausstellungen ist von der Themenstellung über die Werkauswahl bis hin zur Gestaltung aus den Erfahrungen und Ideen der Vermittlungsarbeit heraus konzipiert. Dieses Vorgehen eröffnet völlig neue Möglichkeiten der Ausstellung als Gesamt(Kunst)werk, als eine alle Sinne so umfassend wie nur möglich mit einbeziehende, materiale, visuelle und körperliche Kommunikationsform, die sprachliche Kommunikation fordert und fördert.

Museen sind Orte der Alteriert, sie konfrontieren ihre BesucherInnen mit dem Andersartigen, das als konstitutives Außen nicht nur Bedingung der Möglichkeit von Identität ist, sondern zugleich immer auch ein Teil derselben. Ob vergangene Zeiten oder fremde Gedankenwelten, per se nicht greifbar, Natur oder Kunst, sie werden in musealen Ordnungen materialisiert und scheinbar selbstverständlich organisiert. Jedes Museum, jede Sammlung, jede Ausstellung zeigt den Entwurf einer Weltordnung. Dabei sind diese Entwürfe nie ein neutrales Fundament, auf dem das Haus der Kultur ruhen könnte, denn Selektieren und Systematisieren verfolgen bewusste und oft genug zweifelhafte Ziele. Wenn Leidenschaft und Interesse schließlich verschwinden, werden Museen zu Stätten der bürgerlichen Bildung, zu Tempeln der Aufklärung, in denen mythologische Wesen, Heilige und vergangene Herrscher ihr staubiges Zuhause haben. Alles wird hier kontrolliert und hat sich dieser Kontrolle zu fügen, einschließlich der Raumtemperatur und der objektschonenden Beleuchtung. Jedes Ding hat seinen präzise definierten Platz, und das nicht nur räumlich. Subjektive Erzählungen werden von den Dingen getrennt, um sie in die Sammlungen passender Disziplinen der Natur- oder Kunstgeschichte einzuordnen und in Ausstellungen immer wieder neue Erzählungen zu schaffen. Doch diese fugenlose Ordnung ist längst brüchig geworden. Das Museum birgt in sich den Keim einer “schlimmeren Unordnung”, wie Michel Foucault befürchtet:

Das wäre die Unordnung, die die Bruchstücke einer großen Anzahl von möglichen Ordnungen in der gesetzlosen und umgeometrischen Dimension des Heterokliten aufleuchten lässt.
— Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge.

Verschiedene, alternierende Ordnungen im Museum, widersprüchliche Standpunkte, logische Brüche, nicht zu Ende geführte Gedanken. Das Stolper und Lachen, das das dort eigentlich nichts zu suchen hat, andere Möglichkeiten des Fragestellers und Erzählens, die aus der Geschichte wieder Geschichten machen, hier finden die BesucherInnen Freiräume im Museum. Aus der Dichotomie von Alteriert und Identität als einander bedingende Momente wird so, ineinander verschlungen, mehrfach gebrochen, ein weites Feld der Möglichkeiten, der Einsichten. Museen trösten nicht, sie öffnen keinen “wunderbaren und glatten Raum”, ganz im Gegenteil:

Sie lösen die Mythen auf ...
— Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge.

und jede Neuordnung, das heißt, jede neue Ausstellung bietet die Möglichkeit, diese kulturellen Selbstverständlichkeiten, hegemonialen Sichtweisen und blinden Flecken zu hinterfragen.

Gemischte Gefühle. Der Ausstellungstitel scheint genial gewählt, denn nur selten werden gemischte Gefühle so begrüßt. Unsicherheit für alle! Denn während der bereits geübte Besucher normalerweise recht mühelos die zu betrachtende Kunst von den nicht zu betrachtenden Objekten unterscheiden kann, erweist sich der Fall hier als schwieriger. Kann man auf den Objekten im Raum sitzen? Wie weit kann man über das Dargebotene verfügen? Und da ist noch Musik, die wirr durcheinander schallt, ist sie Teil einer Installation? Neonlicht und Flachware? Und dazu noch die Unsicherheit, die einen bei der genaueren Betrachtung der vielen emotionalen Situationen überfällt: Wie genau können wir diese überhaupt lesen, worauf wollte der Künstler, die Künstlerin hinaus? Geht es um die Gefühle der KünstlerInnen, die Gefühlslage der Werke oder aber um die Wirkung auf die BetrachterInnen? Um alle miteinander? Es scheint als würde ein einziges Gefühl hier ganz klar ausgemerzt: Keine Einfachheit, kein souveräner Zugriff, kein Gefühl recht zu haben. Das ist kein Verlust, kein Versagen, denn es trifft im Kern das, was Ausstellungen tun sollten: Uns den festen, sicheren Boden unter den Füßen wegziehen und uns bewusst machen, wie holprig und vielfältig, ja um wieviel reicher das Terrain ist, auf dem wir uns bewegen.

Es macht Spass sich hier aufzuhalten, Kunst anzusehen, andere BesucherInnen zu beobachten und sich auf die angebotenen Vermittlungsmaterialien einzulassen. KLASSE KUNST löst ein, was eine britische Bildungskampagne fordert:

Lernen beruht auf Eigeninitiative und dem Sammeln von Erfahrung. Menschen lernen, wenn sie der Welt Sinn verleihen wollen. Lernen kann aus der Erfahrung der Fähigkeiten, des Wissens, desVerständnisses, der Werte und Normen, der Gefühle, der Einstellung und der Reflexionsfähigkeit bestehen. Effektives Lernen löst Veränderung, Entwicklung und den Wunsch aus weiter zu Lernen.

Es ist Zeit zu gehen. Ein Besuch im Museum verändert nicht viel, denn die etablierten Wissensregime und Betrachtungsgewohnheiten sind fest verankert und schwer aus den Angeln zu heben. Selbst Schock und Skandal haben sich verbraucht. Kann Kunst die Welt verändern oder die Gesellschaft fundamental berühren? Kann der Besuch einer Ausstellung das Leben in neue Bahnen lenken? Ja, sie kann. Es ist leicht die Kunst zu überfordern und Veränderungen zu unterschätzen. Es geht nicht um den großen Zaubertrick, um die Manipulation der BetrachterInnen, sondern um die kleine Erschütterung, die den Standpunkt ein wenig, fast unmerklich verrücken lässt. Der Erfolg stellt sich für Momente ein, in denen Kommunikation stattfindet, Interesse aufleuchtet, sich Widerstand regt. Momente des Gelingens, in denen wir, verrückt, unseren verworrenen Alltag, unsere Vorurteile und unseren Handlungsspielraum wahrnehmen. Was wissen wir wirklich? Wessen sind wir uns sicher? Gibt es da nicht noch viel mehr zu entdecken? Wozu sich Kunst ansehen? Gemischte Gefühle. Das Museum ist kein Kindergarten. Warum eigentlich nicht?


Veröffentlicht in KLASSE KUNST hoch 5, Landesgalerie Linz 2017