Der rote Planet

In den letzten Wochen haben drei Raketen die Erde in Richtung Mars verlassen. “Expedition Mars: Drei Nationen, drei Missionen, ein Ziel” betitelt Patrick Klapetz hoffnungsfroh seine Zusammenfassung des geplanten Aufbruchs, ohne jedoch das Ziel explizit anzusprechen. Amerika, China und den Vereinigten Emiraten wird die Erde zu eng, ihr Ziel ist es, die anderen zu überholen und die jeweils Ersten zu sein, die den roten Planeten für sich vereinnahmen und ausbeuten können. Es geht darum, sich das größte Stück vom großen roten Kuchen zu sichern.

Während der Himmelfahrt der neuen Dreifaltigkeit beschäftige ich mich mit den mittelalterlichen Weltkarten des London Psalter und Bruno Latour’s “Das terrestrische Manifest”. Die so unterschiedlichen Ereignisse verschmelzen zu einem Reigen von Geschichten, unerwartete Zusammenhänge zeigen sich, Bilder ergänzen und erklären einander. Geschichten, die vor dem Beginn und nach dem Ende der Geschichte einfach weitergehen. Die Karten des London Psalters entstanden um 1265, zur gleichen Zeit, als Roger Bacon mit ersten Gedanken die moderne Naturwissenschaft anvisiert, vom Fliegen und dem Leben im All träumt. Doch - er träumt nicht, er glaubt, das heißt: er hat Gewissheit. Die Geographie ist ihm wichtig, um das Wort Gottes bis in den letzten Winkel der Erde tragen zu können, die Astronomie dient der Vorbereitung auf das zukünftige Leben jenseits, im Himmel.

Credimus nos fore mansuros corporaliter in coelo et perpetue. Quapropter nihil deberet tantum sciri a nobis sicut coelum, nec aliquid in humanis tantum desiderari.

Wir glauben, dass wir körperlich und ewig im Himmel leben werden. Deshalb sollte uns nichts mehr bekannt sein als der Himmel, nichts sollte so begehrt sein.
— Roger Bacon, Opus maius

Nicht unwahrscheinlich, dass sich in den Projektbeschreibungen und Budgetanträgen der Marsflieger ähnliche Formulierungen finden lassen. Fällt nur mir auf, dass von Missionen gesprochen wird, so als ginge es noch immer darum den rechten Glauben zu verbreiten? Die falschen Versprechungen des patriarchalen Glaubens locken heute wie damals zum Aufbruch ins himmlische Jerusalem.

Um sich dem Verlust an gemeinsamer Orientierung zu widersetzen, gilt es, irgendwo zu landen. Was die nicht minder bedeutsame Frage nach sich zieht: Wie sich orientieren? Und woraus folgt, dass wir so etwas wie eine Karte der Positionen entwerfen müssen, die uns durch diese neue Landschaft aufgezwungen werden, in der nicht nur die Affekte, sondern auch das neu bestimmt wird, worum es im öffentlichen Leben geht.
— Bruno Latour

Die beiden Weltkarten des London Psalter (England, c. 1265, Add MS 28681, f. 9r & f. 9v) wirken wie Comics, vorher-nachher, schnell erzählt. Illustrieren sie das Projekt der Welteroberung, der Weltverdauung, der Weltflucht? Die erste Karte zeigt die damals bekannte Erde, drei Kontinente, das Paradies und die Zone der Antipoden mit ihren seltsamen Wesen. Das Erdenrund ruht auf zwei Drachen, während am oberen Horizont der christliche Gott erscheint, die Weltkugel liegt wie eine reife Frucht in seiner Hand. Weihrauchgefäße torkeln durch den nachtblauen Raum, unglückliche Satelliten am Weg ins Nichts. Die weniger oft beachtete Karte auf der Rückseite listet die Namen von Städten und Provinzen der Ökumene. Die bewohnbare Erde ist Schrift geworden, eine Einkaufsliste, eine Liste der Inhaltsstoffe des Leckerbissens. Ein beunruhigendes Bild: Der christliche Gott hat sich die Erde einverleibt, seine Arme versuchen den Erden/Leib zu umfassen, während Cheerleader-Engel ihm zujubeln: Ein Bissen geht noch! Seine Füße, nun sichtbar, zertreten die Köpfe der alten Drachen-Schlangen. Der übergewichtige christliche Held siegt über die furchtbare Mutter, macht sie zur Materie, zum Rohstoff, bereit ausgebeutet zu werden. Die Erde ist haltlos geworden. Die rote Hintergrundfarbe erinnert an Blut, an Hitze, den roten Planeten.

Der Umschlag zeigt eine Illustration von duofluo - design graphique für die Ausstellung Globes. Architecture et sciences explorent la monde, Paris 2017/18

Wirkt das Cover von Bruno Latour’s Buch nur zufällig wie ein Kommentar zu den vorangegangenen Beobachtungen? Ein Erdkreis, Sphären, ein Mittelpunkt, ein roter Planet. Es ist verlockend, die Karten übereinander zu legen. Der christliche Gott und sein geflügelter Fanclub sind von kosmischem Schwarz umhüllt, unsichtbar. Der Himmel ist nun an die Stelle des äußeren Meers getreten, in dem noch einige bewohnbare Stadt-Inseln liegen. Anstatt der drei alten Kontinente Afrika, Asien und Europa ist nur mehr Amerika vorhanden. Die Erde ist aufgerissen, ein Vergnügungsbergwerk. Die Erde als Denkmal-Spektakel, Zielscheibe und bereit zu rotieren wie eine Schallplatte. Greatest Hits aus Gotteslob. Auch dieses Bild beunruhigt. Wo hier landen, wo sich hier verorten? Das Paradies wird durch ein Schiff ersetzt, viel zu groß für den Globus darunter. Ein Raumschiff, in dem Noah und Kolumbus einander am Weg ins moderne Jenseits treffen.

In der Modernität Vorwärtskommen hieß, sich vom ursprünglichen Boden losreißen und den Weg zum Großen Außen einschlagen.
— Bruno Latour

Das Große Außen hat viele Namen: Himmel, Jenseits, Überirdisches, Außerirdisches, All, Weltraum. Die damit verbundenen Versprechungen haben sich seit der Erfindung des über allem schwebenden Gottes kaum verändert. Nichts wie weg von dieser Erde, dort oben ist alles unter Kontrolle. Der außererdliche Attraktor, wie Latour die jenseitige Zone nennt, ist unabhängig von der Unordnung der Erde, ist unabhängig von der Erde. Kein Schmutz, kein Humus, nur glasklare Nährlösungen. Der Traum des Patriarchats, die Unabhängigkeit von der Mater/ie kann da draußen endlich verwirklicht werden. Das da höchstwahrscheinlich kein Leben am Mars zu finden ist, verlockt um so mehr: Das Leben stört nur die industrielle Entwicklung. Der rote Planet besteht nur aus rohem Stoff, aus Rohstoff, eine Globus reif zum Verschlingen. Noch verfolgen die zukünftigen Marsianer die Avantgarde der Blechkisten nur mit Blicken. Aber sie haben die feste Überzeugung, dass sie körperlich und ewig im Himmel leben werden. Schon ist das Projekt zum Projektil geworden, und die Marsianer rüsten sich für das Verlassen der Erdgebundenen.

Nichts wird sich uns offenbaren, wenn wir uns nicht in Richtung dessen bewegen, was für uns wie Nichts aussieht: Glaube ist eine Kaskade.
— Alice Fulton

Kunstforum International 269, am Titelbild David Shrigley’s ‘World One’, 2010

Kaum habe ich das geschrieben bringt die Post ein neues Weltbild ins Haus, die Erde im Schneeballformat, ein Hagelkorn in der Dunkelheit. 750 Jahre liegen zwischen den Weltkarten des London Psalter und dieser Darstellung, und alles scheint verloren. Jeder Bezug zu einer lebendigen, bewohnbaren und bewohnten Erde ist verschwunden. Es ist eine Karte für Marsianer, die längst keinen Fuß mehr auf diese leere Erde setzen wollen.

Muss ich es sagen? Ich bin anderswo.