#greenARTtulln, #artemisiaGARTEN
Es gibt sie tonnenweise: Tipps und Tricks für den Sommergarten, für den Wintergarten, Tipps für den kleinen Garten, kleine Tipps für deinen Garten. Profitipps für Macher, Gartenideen für Anfänger, mit Gartentipps zu einem immer schöneren Garten. Altes Wissen für den Garten, Bauerngarten leicht gemacht. Gartenregeln für den Kleingarten, 10 Regeln für einen attraktiven, pflegeleichten Garten. Ist der Garten nicht per definition der Bereich der gezähmten Natur, der Ordnung, jener kleine Bereich der Welt, den der Mensch unter Kontrolle hat? Der Gärtner, gottgleich, hat den Überblick, weiß wo es lang geht, wo etwas wachsen darf und wo nicht. Wurzelsperren und Insektenhotels. "Ist nicht die Lust am Gärtnern längst überformt durch einen sturen Ordnungsfanatismus, durch den die Natur gerade verhindert wird, so zu wachsen, wie sie wachsen will?" (1) Ach ja, die Natur. Wie sie wachsen will, das wissen die Ökologen und Naturgärtner: sich selbst regulierende, stabile Systeme im Gleichgewicht. Wie gut, dass sich die Natur nicht darum kümmert. Genug davon. An einem warmen Abend im August, inmitten der wuchernden Artemisien, wurde uns klar: Das Leben lässt sich nicht einschränken. Im Garten nicht einmal durch den Tod. Jeder Versuch diesem Wesen Regeln aufzuerlegen wird umgehend subtil umwachsen. Ebenso wie der Versuch aus dem Vorhandenen, naturbelassen oder nicht, etwas anderes als Kurzschlüsse abzuleiten. Die führt schon der nächste Mistkäfer ad absurdum. Da helfen keine Tipps, keine Regeln und Wachstumstabellen auch nicht. Kontrolle behalten? Ordnung? Lächerlich und nekrophil. Der Garten aber ist biophil, voll mit Leben, Lebewesen und Lebensweisen, Möglichkeiten und Enttäuschungen, die neue Möglichkeiten entbergen. Es wurde klar: Der Garten ist wild. Und sie muss wilder werden.
Wild - was bedeutet das eigentlich? Mary Daly schreibt dazu:
"Als Hilfestellung, um den Ruf unserer wilden Natur zu hören / zu er-innern, können wir uns die seltsame und un-wahrscheinliche Sprache des Lexikons ansehen, die, entgegen all seinen Absichten, diesen Ruf übermittelt.
Wild wird dort erklärt als "im Naturzustand leben; natürliche Schlupfwinkel bewohnen; nicht gezähmt oder domestiziert ... einer Art angehörend, die normalerweise nicht domestiziert wird." Es heißt, "wachsen oder entstehen ohne Hilfe und Pflege von Menschen; nicht kultiviert; von der unberührten Natur hervorgebracht ... URSPRÜNGLICH". Es heißt, "nicht in der Nähe oder in Gemeinschaft mit Menschen lebend". Es heißt, "nicht bewohnt oder kultiviert". Es heißt, "keinen Einschränkungen und Vorschriften unterworfen: UNKONTROLLIERT, UNBEHERRSCHT, ZÜGELLOS".
Wild bedeutet: "keiner Kontrolle, Einschränkung oder Domestizierung zugänglich: WIDERSPENSTIG, UNZÄHMBAR, VERWEGEN". Es heißt "(auf ein Schiff bezogen) schwer zu steuern". Es heißt, "normale oder konventionelle Grenzen im Denken, in Entwürfen, Konzeptionen, Ausführung oder Natur überschreiten: EXTRAVAGANT, PHANTASTISCH, VISIONÄR". Es heißt, "keine Kulturaneignung einer fortgeschrittenen Zvilisation: PRIMITIV, UNZIVILISIERT, BARBARISCH". Es heißt, "sich keiner Regierungsautorität unterwerfen: UNGEZÄHMT, UNLENKSAM, REBELLISCH". Es heißt, "Charakteristikum von, gehörend zu, oder Ausdruck von Wildnis, freilegenden Tieren oder Leuten in einer einfachen oder unzivilisierten Gesellschaft oder Umgebung".
Wild bedeutet, "von natürlichem oder erwarteten Kurs, Ziel oder Praktik abweichen; handeln erscheinen oder sich manifestieren auf unerwartete, unerwünschte oder unvorhersehbare Weise: ZIELLOS, UNBERECHENBAR". Es heißt, "durch keine bekannten Theorien abgedeckt".
Wild heißt, "groß in Ausdehnung, Umfang, Quantität oder Intensität: EXTREM, GEWALTIG". Es heißt, "(auf eine Spielkarte bezogen) einen Wert haben, der jeweils vom Spieler bestimmt wird"." (2)
Es heißt "lebenskräftig, stark sein, ... die Grundbedeutung von wild geht also auf ungeschwächte, ungezähmte Naturkraft zurück". Es heißt "überhaupt in unverändertem Naturzustande befindlich, in ursprünglicher natürlicher Beschaffenheit, von menschlicher Kunst und Absicht unberührt; insbesondere in Ansehung der körperlichen, physischen Natur: der menschlichen Bildung, Kultur, Zucht, Pflege oder Sorgfalt ermangelnd, nicht gezähmt, nicht veredelt, nicht angebaut, nicht künstlich hervorgebracht oder geregelt".
Es heißt "von Pflanzen, welche wild wachsen, das ist unangebaut und ohne Pflege, entgegen den Garten- und Feldgewächsen, auch ein wilder Boden, ein wildes Land, eine wilde Gegend, ohne Spuren regelnder Kunst".
Es heißt "hässlich, garstig, schmutzig, das ist der äusserlichen Bildung oder Pflege ermangelnd, - ein wildes Gesicht, ein wildes Mädchen, auch wildes Wetter -, der gesellschaftlichen Bildung, Gesittung und geregelten Lebenseinrichtung ermangelnd, im rohen Naturzustande lebend, ungesittet, unzivilisiert". Es heißt "der höheren sittlichen Bildung und Erziehung ermangelnd, und in diesem Mangel gegründet, sinnverwandt roh, ungesittet, unsittlich, ungezogen".
"In bestimmterer Bedeutung" heißt es "seine Leidenschaften nicht zügelnd, sinnverwandt zügellos, unbändig, grausam, in hohem Grade heftig, ungestüm: wild wüten oder rasen, wilde Begierde, ein wildes Vergnügen, wilde Blicke, ein wildes Pferd, das ist ein unbändiges, ungestümes, ein wilder Strom". Es heißt "von leidenschaftlicher Aufwallung oder Erregtheit in einem besondern Falle, höchst unwillig, ungehalten, aufgebracht, zornig, böse: wild werden, in Zorn geraten, einen wild machen, wild auf jemand sein".
Es heißt "scheu, zum Ausreißen geneigt, auch fremd, unbekannt, fremdartig, ungewöhnlich, erstaunlich, sonderbar, seltsam, auffallend: welche Bedeutung ihren Grund in dem Gegensatz des Wilden, Ungebildeten, als eines Ungewohnten, Fremden, gegen das Gebildete, Heimische hat, daher noch jetzt: wildfremd für ganz fremd". (3)
Ungezähmt und unbezähmbar, wütend, leidenschaftlich, hässlich, kulturlos. Die Regeln und Grenzen überschreitend, nach eigenen Regeln lebend, nur um sich auch über sie hinwegzusetzen. Was nun ist an diesem Garten wild? Eine besonders ökologisch richtige Pflanzenauswahl? Ein Porträt einer unberührten Landschaft? Das interessiert uns nicht. Keine Natur im Garten. Aus dem Garten hört man wildes Lachen. Wild ist überschwänglich und öde im Überfluss. Sie wachsen nicht in verordneten Bahnen, Zeiten und Trögen. Sie wachsen überall: zwischen den Fugen im Asphalt, in Wüste und Sumpf, Rathausplatz und Brache. Sie breiten sich aus, verwildern. Sie laden dazu ein selbst zu verwildern. Artemisien, benannt nach Artemis, der wilden Göttin, sind bitter und ungezügelt im Wachstum. Mitten im August verlieren wir uns zwischen den hohen, duftenden Pflanzen, werden selber Pflanze, verwurzeln uns wieder. Als Teil des Gartens werden auch wir wilder, leidenschaftlich, zornig und durch keine bekannte Theorie fassbar.
(1) Michael Andritzky: Grün als Ware. In: Andritzky & Spitzer (Hg.): Grün in der Stadt – von oben/von selbst/für alle/von allen. Reineck 1981, S 117
(2) Mary Daly: Gyn/ökologie. München 1986, S 360f
(3) Johann Heyse: Handwörterbuch der deutschen Sprache mit Hinsicht auf Rechtschreibung, Abstammung und Bildung, Biegung und Fügung der Wörter, so wie auf deren Sinnverwandtschaft. Magdeburg 1849, S 1968f