August im Garten und ich lasse alles wachsen wie es grade will. Das Geräusch von Motorsägen, Rasenmähern und Traktoren aus der Umgebung begleitet die Lektüre von Camille Paglias Gedanken über ‘Natur und Kultur’. Der Garten ist beides, Natur und Kultur. Der Dualismus ist hier so falsch wie überall anders auch, aber ermöglicht Einblicke in die gestaltenden Strukturen. Ich lese also weiter.
“Wir sagen, die Natur sei schön. Aber auch dieses ästhetische Urteil, das keineswegs alle Völker geteilt haben, ist nur eine weitere Reaktionsbildung, jämmerlich ungeeignet, die Ganzheit der Natur zu erfassen. Das Schöne an der Natur ist auf die hauchdünne Oberfläche des Planeten beschränkt, auf dem wir hausen. Kratzen wir an der Oberfläche, bricht die dämonische Hässlichkeit der Natur hervor.”
Rundum wird die ‘hauchdünne’ Oberfläche gemäht, abgeholzt und beackert. Sorgsam wird darauf geachtet, dass die Schicht dünn bleibt, der Rasen nicht mehr als 3 cm, die Gärten mit sauberen Beeten und Wegen, übersichtlich und ordentlich. Auch das Ungezügelte der Natur ist bedrohlich, als würde das Dämonische nur allzugleich durch die ordentlich dünne Schicht brechen.
“Unsere Konzentration auf das Schöne ist eine apollinische Strategie. Die Blätter und Blumen, die Hügellandschaften sind ein buntes Muster, das dazu dient, das Vertraute zu kartographieren. Was der Westen in seinem Bild von der Natur verdrängt, ist das Chthonische, das ‘zur Erde Gehörige’, womit deren Leib, nicht die Oberfläche gemeint ist. ”
Wieder mal das Apollinische: Blätter und Blumen gern, aber nicht struppig, nicht dornig, nicht zu viel. Der Gott der Rasenmäher (ja, es gibt ihn wirklich, den Rasenmäher Apollo) und Vergewaltiger, der gern auch mal jemandem die Haut abzieht. Warum ruft er nicht panischen Schrecken hervor?
“Das Dionysische ist kein Frühstück im Freien; es geht vielmehr um die chthonischen Realitäten, denen Apollon ausweicht: das blinde Mahlen der unterirdischen Gewalten, den endlosen, langsamen Sog, Schlamm und Morast. Es ist die unmenschliche Grausamkeit der Biologie und Geologie, die darwinistische Verschwendung und Blutrünstigkeit, der Schmutz und die Fäulnis, vor der wir unser Bewusstsein verschließen müssen, um unsere apollinische Integrität als individuelle Person behaupten zu können.”
Ich bin nicht apollinisch integer, vielleicht weil ich eine Frau bin, und Paglia unausgesprochen auch vom kulturell seit Jahrtausenden festgeschriebenen Dualismus von männlich und weiblich spricht, der dadurch kaschiert wird, dass dem Weiblichen nicht mal eine Göttin vorsteht. Ich möchte nicht weiter auf die mit diesen Worten sanktionierte Ausbeutung und Zerstörung der Erde und der Frauen eingehen. Viel wichtiger ist mir an dieser Stelle aber eine Neubewertung des Chthonischen: Indem die Erde und die scheinbare Unordnung der Natur mit Geboren werden und Sterben als dämonisches Angstszenario aufgebaut wurde - und es immer noch ist - rotieren wir im Sog der Machbarkeit und Projekte, anstatt zuzugeben, dass jede Ordnung, die wir schaffen können, immer zu einfach ist um das Leben zu fördern. Für mich ist das ein Anstoß, mich mehr mit der Schönheit des Chthonischen und chthonischer Schönheit auseinanderzusetzen.