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Treten Sie näher! Eine Distanzlosigkeit.

Martin Praska, 2002

Normalerweise, liebe Leserin und lieber Sammler (Frauen lesen und Männer sammeln), steht an dieser Stelle eine ausgemachte Expertenmeinung – dem malerischen Anlass entsprechend eine recht schönfärberische obendrein. Eine solche einzuholen, bedarf es aber einer gewissen Distanz zur Ehrlichkeit, die der Hannah Stippl nun aber vollends fehlt. So, wie ja die Experten, um den Überblick zu bewahren, immer in einer gewissen Entfernung, sprich in einem wohl ausgebildeten Abstandsverhältnis zum Gegenstand ihrer Expertise zu stehen pflegen.

Schon als Kinder bekommen wir beigebracht, dass Gemälde den richtigen Abstand brauchen. Wir fahren mit der Schulklasse nach Paris, gehen in ein Museum, sehen dort ein Bild von Claude Monet hängen. Und die Frau Lehrerin und der Aufseher sorgen dafür – übrigens aus ganz entgegengesetzten Gründen –, dass wir nur ja nicht zu nahe herantreten. Das Bild muss man von hier betrachten. Nicht von hier, von dort! Von dort hinten! Dabei fürchtet der Aufseher die Gefahr, die vom Besucher für das Bild ausgeht. Und die Frau Professor fürchtet umgekehrt die Gefahr, die das Bild für ihre Schützlinge darstellt. Es könnte ja sein, so ihre Sorge, dass die Schüler vom Chaos der Pinselstriche ganz verwirrt, verstört werden. Dass sie sich in dem Wirrwarr der über- und untereinander gelegten Farben verlieren und nicht mehr herausfinden. Längst hat die versierte Pädagogin gemerkt, dass von der großen Leinwand etwas gefährlich Anarchisches ausgeht, das die jungen Staatsbürger in ihrer Entwicklung zur Anpassung behindert. Von hier aus, also von weitem, so argumentiert sie mit aller geheuchelten Naivität, nur ganz aus der Ferne, erkennt man ja das Wesentliche. Und sie meint damit allen Ernstes die Seerosen. Wir sind immer noch bei Monet. Genug davon.

Maler – im Gegensatz zu den Experten – sind nur bedingt als Subjekte einer Untersuchung über die Malerei tauglich. Wenn man selbst Bilder malt, bleibt einem gar nichts anderes übrig, als gelegentlich nahe heranzutreten. Das gewöhnt man sich nun aber so sehr an, selbst bei fremden Werken, dass man immer wieder in die peinliche Situation gerät, in den Museen, bei den Wärtern und den Lehrpersonen Alarm auszulösen. Indem hier also unkonventioneller Weise einmal ein Maler über eine Malerin zu sprechen anhebt, gerät die Bildbetrachtung natürlich unversehens zu einem Annäherungsversuch. Aus gutem Grund übrigens, denn von weitem glaubt man tatsächlich es handle sich dabei um so etwas ähnliches wie die berühmten Seerosen des großen Impressionisten. Und dann wundert man sich, warum das heutzutage noch Konjunktur hat. Naja, die Experten wundern sich halt. Aus nächster Nähe betrachtet ist es aber etwas ganz anderes als von weitem vermutet. Das lässt sich leicht bei einem Besuch feststellen: Claude Monet in seinem wunderschönen Garten draußen in Giverny bei Paris zu Beginn des letzten Jahrhunderts, und Hannah Stippl in ihrem wunderschönen Atelier in Wien zu Beginn des neuen Jahrtausends. Monet an der Schwelle zur formlosen Abstraktion, zu dem um 50 Jahre vorweggenommenen Informel, malt immer noch seine sehr konkreten Seerosen. Dass weiß er. So aufgelöst und diffus diese auch am Ende ausschauen mögen.

Hannah Stippl, 50 Jahre nach der Erfindung der informellen Malerei, weiß nun nicht, was sie tun soll. Und das ist der entscheidende Unterschied, der sie zur zeitgenössischen Künstlerin macht. Wir leben ja – am Rande bemerkt – in einer Zeit des Fatalismus. Es gibt keine Utopien mehr, keine Visionen und keine Investitionen. Alles, was man uns zu bieten hat, ist ein Sparprogramm und eine ausgemachte Spießbürgerpolitik. Ich sage das deshalb, weil die Kunst seit jeher die politische Opposition ist und sein muss. Und weil auch eine Malerei, so subtil sie auch immer ist, erst dann zur Kunst wird, wenn sie da im rechten Augenblick richtig reagiert. Claude Monet hat in einer Zeit der industriellen, technischen und nationalstaatlichen Euphorie im Europa vor dem ersten Weltkrieg – Blumen gemalt. Und zwar so, dass sie sich beim Näherkommen in nichts als Farbe auflösen. Hannah Stippl macht es ganz umgekehrt. In einer Zeit der wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Frustration inmitten eines zwischen Einigungs- und nationalistischen Separationsbestrebungen zerrissenen Europa malt auch sie Blumen, aber so, dass man zunächst nichts als diffuse Farbe sieht und erst beim Herantreten exakte schablonenhaft applizierte Blumenarrangements erkennt. – Hannah Stippl: der umgekehrte, der spiegelverkehrte Monet. Und in der Mitte zwischen dem alten Maler und der jungen Malerin, von beiden gleich weit entfernt, die Symmetrieachse: abstrakter Expressionismus und Informel. Und um das Gleichnis zur Geometrie auf die Spitze zu treiben, sei die These gewagt, auch der gesellschaftliche Hintergrund erscheint uns gespiegelt. Nationalistische und chauvinistische Tendenzen da wie dort, aber hier und heute aus Frustration. Damals aus Euphorie. Als ein Bild für Rückwärtsbesinnung, Konformität und Bürgerlichkeit erscheint uns das Blumenbildnis. Und das Bestreben der nonkonformistischen Künstler ist dessen Auflösung. Monet fordert uns dazu auf – dem Aufseher und der Frau Lehrerin zum Trotz –, näher zu kommen. Hannah Stippl schickt uns, nachdem wir angesichts der Blumenfülle – die Dosis macht das Gift – erschrocken sind, wieder auf Distanz. Der bürgerliche Salon, Schreckenskabinett aller Künstler seit wir den Begriff Avantgarde kennen, wird seitdem von diesen auch immer wieder umgedreht, nach außen gestülpt und misshandelt. Und auch Hannah Stippl geht da ganz offensiv vor, indem sie den Wanddekor herunternimmt und damit nach Gutdünken verfährt. Ihre Bilder sind hypertroph-monströse Tapeten. Und dann kommt die Stuckdecke dran. Sie wird von ihr in Einzelteile zerlegt und zerdrückt, gequetscht und an die Wand gehängt.

Naja, von Weitem fühlt sich die Aufsichtsperson noch wohl. Es geht ihr wie in der Orangerie in Paris vor den Seerosen. Mittlerweile haben wir gelernt, abstrakte, formlose und gestische Malerei zu verstehen. Und so treten wir ohne Scheu näher. Doch halt, was soll das? Wild gewordene Blümchentapeten, mit Walzen aufgetragene Muster und Wiesenstücke ohne Horizont und ohne Rettung. Auch die Idylle kann zur Schreckensvision werden. Es kommt eben auf die Dosis, es kommt auf die richtige Distanz an. Wer demnach nicht weitsichtig ist und darüber hinaus keine Angst hat vor subversiven Erkenntnissen – Allergiker ausgenommen – sollte den vorliegenden Katalog jedenfalls einmal etwas näher unter die Augen halten.

 Böschung_02, 2002, Acryl und Öl auf Leinwand, 180 x 220 cm


Come Closer! A Distancelessness.

Martin Praska, 2002

Normally, dear reader and dear collector (women read and men collect), at this point there is an expert opinion - according to the picturesque occasion a rather glossy one at that. To obtain such an opinion, however, requires a certain distance from honesty, which Hannah Stippl now completely lacks. Just as experts, in order to maintain an overview, always tend to stand at a certain distance, i.e. at a well-developed distance from the object of their expertise.

Even as children, we are taught that paintings need the right distance. We go to Paris with our school class, go to a museum, see a painting by Claude Monet hanging there. And the teacher and the supervisor make sure - for completely opposite reasons, by the way - that we don't get too close. You have to look at the picture from here. Not from here, from there! From back there! The supervisor fears the danger that the visitor poses to the painting. And the professor, on the other hand, fears the danger that the painting represents for her protégés. It could be, she worries, that the students will be completely confused and disturbed by the chaos of the brushstrokes. They might get lost in the confusion of colors laid over and under each other and not be able to find their way out. The experienced pedagogue has long since noticed that something dangerously anarchic emanates from the large canvas, which hinders the young citizens in their development towards adaptation. From here, that is, from afar, she argues with all feigned naiveté, only from a distance, one recognizes the essential. And she seriously means the water lilies. We are still with Monet. Enough of that.

Painters - in contrast to experts - are only conditionally suitable as subjects of an investigation into painting. If one paints pictures oneself, one has no choice but to approach occasionally. But one becomes so accustomed to this, even with works by others, that one repeatedly finds oneself in the embarrassing situation of setting off alarms in the museums, with the guards, and with the teachers. So when a painter starts to talk about a woman painter in an unconventional way, the contemplation of the picture naturally turns into an attempt at rapprochement. For good reason, by the way, because from a distance one actually believes it is something similar to the famous water lilies of the great Impressionist. And then you wonder why this is still popular nowadays. Well, the experts wonder. However, when seen up close, it is something quite different from what is suspected from afar. This is easy to see during a visit: Claude Monet in his beautiful garden outside in Giverny near Paris at the beginning of the last century, and Hannah Stippl in her beautiful studio in Vienna at the beginning of the new millennium. Monet on the threshold of formless abstraction, of Informel anticipated by 50 years, still paints his very concrete water lilies. That he knows. As dissolved and diffuse they may look in the end.

Hannah Stippl, 50 years after the invention of informal painting, now does not know what to do. And this is the decisive difference that makes her a contemporary artist. We live, after all - as an aside - in an age of fatalism. There are no more utopias, no more visions, no more investments. All we have to offer is an austerity program and an out-and-out philistine policy. I say this because art has always been and must be the political opposition. And because painting, however subtle it may be, only becomes art when it reacts in the right way at the right moment. Claude Monet painted flowers in a time of industrial, technical and national euphoria in Europe before the First World War. And he did it in such a way that they dissolve into nothing but color as he approaches them. Hannah Stippl does it quite the other way around. In a time of scientific and social frustration in the midst of a Europe torn between unification and nationalistic separation efforts, she also paints flowers, but in such a way that at first one sees nothing but diffuse color and only recognizes exact stencil-like applied flower arrangements when approaching. - Hannah Stippl: the inverted, the mirror-inverted Monet. And in the middle between the old painter and the young painter, equally distant from both, the axis of symmetry: abstract expressionism and Informel. And to take the parable to geometry to the extreme, let's venture the thesis, also the social background appears mirrored to us. Nationalist and chauvinist tendencies here and there, but here and now out of frustration. Then out of euphoria. As an image for backward reflection, conformity and bourgeoisie appears to us the flower portrait. And the aspiration of the nonconformist artists is its dissolution. Monet invites us - in defiance of the overseer and the lady teacher - to come closer. Hannah Stippl sends us, after we are frightened in view of the abundance of flowers - the dose makes the poison - to distance ourselves again. The bourgeois salon, cabinet of horrors of all artists since we have known the term avant-garde, has since then also been turned upside down, turned inside out and abused. And Hannah Stippl also proceeds quite offensively by taking down the wall decor and doing with it as she sees fit. Her paintings are hypertrophically monstrous wallpaper. And then comes the stucco ceiling. She takes it apart and crushes it, squeezes it and hangs it on the wall.

Well, from a distance the supervisor still feels comfortable. She feels like in the Orangerie in Paris in front of the water lilies. By now we have learned to understand abstract, formless and gestural painting. And so we approach without shyness. But wait, what is this? Wallpapers of flowers gone wild, patterns applied with rollers and meadow pieces without horizon and without salvation. Even the idyll can become a vision of horror. It all depends on the dose, it all depends on the right distance. Anyone who is not farsighted and, moreover, not afraid of subversive insights - with the exception of allergy sufferers - should take a closer look at this catalog.