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Work in Progress

Kunst im öffentlichen Raum, Wien 2010-2018

Hannah Stippl hat mit ihrem Projekt work in progress die Stützmauern des Ernst-Arnold-Parks im fünften Wiener Gemeindebezirk – in Reaktion auf die Sprayer- und Graffitiszene, die sich dieser Flächen längst bediente – zum Malgrund für eine dialogisch angelegte künstlerische Intervention gemacht. Ihre Wandmalerei rekurriert auf natürliche, botanisch-pflanzliche Strukturen. Die aus Farbflächen bestehenden und mithilfe von Malerwalzen erzeugten repetitiven Gefüge zielen jedoch nicht auf mimetische Abbildung, sondern evozieren vielmehr einen mehrdeutigen Eindruck von Natürlichem. Der Durchgangsort ist durch die Intervention zum Modell eines veränderlichen Kunstwerks geworden, das auf sozialen Austausch abzielt.

Malerei als sozioästhetisches Dispositiv

Anmerkungen zur Beobachtung des Nichtbeobachtbaren in Hannah Stippls malerischer Intervention

David Komary, Galerie Stadtpark Krems, 2010

In WORK IN PROGRESS macht Hannah Stippl die Stützmauern des Ernst-Arnold-Parks zum Malgrund für eine dialogisch angelegte künstlerische Intervention: In den kommenden vier Jahren wird sie die Wände – in Reaktion und in Resonanz auf die Sprayer- und Graffitiszene, die sich dieser Flächen längst bediente – künstlerisch bespielen. Stippls Wandmalerei fordert Übermalungen und Einschreibungen der AkteurInnen dieser Szene dabei geradezu heraus. Sie macht den Durchgangsort auf diese Weise zum Modell eines veränderlichen Kunstwerks, das in Form eines dialogisch angelegten ästhetischen Prozesses auf sozialen Austausch abzielt.

Hannah Stippl rekurriert in ihrer Malerei meist auf natürliche, botanisch-pflanzliche Strukturen. In der malerischen Intervention greift sie auf eine für ihre Arbeit typische ästhetische Strategie zurück: Stippl scheint von jeher mehr daran interessiert, ästhetische Eindrücke zu evozieren, als Wahrnehmungen im Sinne eines abbildhaften Ähnlichkeitsverhältnisses wiederzugeben. Die aus einer Vielzahl von Farbflächen bestehenden und mit Hilfe von Malerwalzen erzeugten repetitiven Strukturgefüge zielen nicht auf mimetische Abbildung, sondern bringen vielmehr einen mehrdeutigen Eindruck von Natürlichem hervor. Stippls Malerei fordert die Ergänzungsleistung des Blicks, das projektive Vermögen der BetrachterIn heraus. Laub- und Blätterwerk wird dabei weniger erkannt als vom Betrachter in die Strukturen hineingelesen.

Bedeutet eine derartige, teils impressionistisch anmutende Malweise im öffentlichen Raum nicht per se Ästhetisierung? In dieser Lesart bildete Stippls malerische Intervention nichts weiter als eine eskapistische Projektionsfläche. Kunst wäre dann bloß eine Antithese zum Alltäglichen, Gewöhnlichen, zum „Öffentlichen“ und würde somit jegliche politische Dimension einbüßen. Stippl arbeitet jedoch mit Reduktion und Auflösung des Visuellen, um einen Zustand der perzeptiven Unbestimmtheit zu erreichen. Diese camouflageartige Codierung ihrer Malerei zielt nicht auf Verdeckung, Verschleierung, Tarnung, sondern auf die Evokation des Unsichtbaren im Sichtbaren. Sie rekurriert dabei längst nicht mehr bloß auf Natureindrücke, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, sondern auf verdeckte Mechanismen ästhetischer Regimes, auf hegemonialisierte Formen der Kunstbetrachtung.

Die Künstlerin verzichtet in ihrer Intervention auf formale Geschlossenheit, sie bringt kein vermeintlich autonomes, von der Außenwelt abgekoppeltes künstlerisches Gebilde hervor, sondern schafft ein malerisch-interventionistisches Dispositiv in Form eines offenen ästhetischen Systems. Künstlerisches Handeln gleicht hierbei mehr einer Aktivität, einer ästhetischen Praxis, die auf das alltägliche, öffentliche Leben einwirkt und mit ihm interagiert. Wenn Stippl als geladene Künstlerin eine Wand bemalt, während Graffitis bekanntlich als illegal geahndet werden, stellt sich im zeitlichen Verlauf, in der Weiterentwicklung der Arbeit, die Frage nach der Legitimität der einzelnen ästhetischen Einschreibungen fremder AkteurInnen. Auf welcher Grundlage würde über ein Verbleiben oder die Entfernung unterschiedlicher malerischer Setzungen entschieden werden? Aufgrund ästhetischer Qualitäten, der Autorschaft oder aufgrund des Eigentumsrechts? Anders gefragt: Was legitimiert einen „gestalterischen“ Eingriff? Subjektive, ästhetische oder politische Kategorien? Durch die Einladung von offizieller Seite wird das Verbotene durch das malerische Dispositiv Stippls zu etwas anderem, erlangt eine veränderte Bedeutung. Stippl selbst wird dabei prototypisch von der Vandalin zur Beamtin. Zugleich setzt die Künstlerin, gerade um dieser Festschreibung und Instrumentalisierung zu entgehen, Leerstellen ins Bild, lässt gewisse Bereiche frei und unbemalt. Diese malerischen Absenzen spielen einerseits rezeptionsästhetisch eine Rolle, sie aktivieren die Ergänzungsleistung des BetrachterInnenblicks, andererseits fordern sie aber auch, sozioästhetisch gelesen, potentielle SprayerInnen zur „Antwort“, zum ergänzenden oder konterkarierenden Kommentar, heraus. Die Leerstellen bilden demnach eine Projektionsfläche für eine Vielzahl imaginärer Bilder und Texte.

Versteht man Stippls Intervention als konzeptuelle und kontextreflexive Malerei, die die Wahrnehmungskonventionen und Repräsentationscodes von Kunst selbst thematisiert, geht es nicht mehr um die Reflexion von Sichtbarem, Visuellem, „Künstlerischem“. Stippl malt nicht, um Natürliches abzubilden oder Natureindrücke hervorzubringen, sondern verwendet die Darstellungsweise von Natürlichem als Rohstoff, als konventionelle und gesellschaftliche akzeptierte Chiffre für Schönes per se. Stippl fokussiert damit zugleich auf Schematisierungen, die letztlich für das System der Kunst konstitutiv sind. Das Schöne ist demnach keine öffentlich verhandelte Kategorie, sondern wird in und von bestimmten Dispositiven hervorgebracht. Um diese Grenzverläufe sichtbar und beobachtbar zu machen, schafft die Künstlerin eine ästhetische Anordnung zur Beobachtung von Beobachtung: von Rezeptionsweisen und Repräsentationsverhältnissen innerhalb der Kunst und angrenzender gesellschaftlicher Bereiche. 

Gelingt Stippls Intervention, die Kollaboration mit nicht geladenen KünstlerInnen und AkteurInnen, entsteht ein Wechselspiel antagonistischer Kräfte mit offenem Ausgang: eine Gleichung mit n Unbekannten. Der Status des klassischen KünstlerInnensubjekts ist dabei modifiziert. Stippl provoziert einen Zeichentausch über die „ausgemachten“ Systemgrenzen KünstlerIn/NichtkünstlerIn und legal/illegal hinweg. Weder das Bildgeviert als geschlossenes ästhetisches Artikulationsfeld noch die Fundierung im Subjekt, in der Autorschaft, bildet eine klare Grenze der möglich ästhetischen Handlungsweisen. Es kommt vielmehr, über den Zeitraum von vier Jahren, zum Alternieren der gemeinhin als oppositionell gedachten Figuren AutorIn/RezipientIn, KünstlerIn/SprayerIn, Kunst/Öffentlichkeit.

Die unsichtbaren, systemischen Grenzen bilden somit das eigentliche Material der Künstlerin, sie untersucht sozusagen den Schrägstrich zwischen Innen/Außen, Subjekt/Öffentlichkeit und Kunst/Nichtkunst. Durch die in dieser malerischen Intervention von offizieller Seite unter der Überschrift „Kunst im öffentlichen Raum“ legitimierten Handlungsweisen werden künstlerische Setzungen und beliebige Eingriffe ununterscheidbar, auf einer Ebene integriert und ästhetisch egalisiert. Stippl schafft auf diese Weise eine Zone der Unbestimmtheit und der Umsemantisierung. Freilich meint die Künstlerin mit der Einbettung anonymer und subversiver Formensprachen nicht, etwas zu enthüllen und sichtbar zu machen, was sonst im Verborgenen verbliebe. Dies wäre die naive Projektion eines kulturell Anderen, das letztlich bloß auf einen obsoleten Begriff bourgeoiser Ängste verwiese. Vielmehr dekonstruiert sie ein historisch überholtes, stabiles Subjekt/Objekt- und AutorIn/RezipientIn-Schema, auf das sich die Metaphysik des Subjekts oftmals auch heute noch zu stützen versucht. Durch die Aushebelung des dualen Schemas KünstlerIn/VandalIn verschiebt sich der Fokus hin zu der soziopolitischen Fragestellung, wie die Räume der Kunst und die Kunstbetrachtung selbst ideologisch beschriftet sind.

Ästhetische Codierungen bilden sich demnach weder absolut noch kontextunabhängig „autonom“, sie werden stets von Dispositiven hervorgebracht. Ein Kunstwerk wirkt, wie Peter Bürger am Beispiel der auratischen Rezeptionsweise beschreibt, in diesem Sinn niemals bloß von sich aus, seine Wirkung wird von Institutionen bestimmt und von Rezeptionsweisen, die sozialgeschichtlich fundiert sind. Nicht also in der Erscheinung selbst, der Formensprache, der ästhetischen, semiotischen und syntaktischen Struktur einer Arbeit liegt der Wirkungs- und Bedeutungsgrad des Ästhetischen. Dispositive sind jene systemischen Schnittstellen zwischen Diskursivität und Sichtbarkeit, die den Blick konfigurieren, ihn leiten und lenken, indem sie dem Subjekt einen bestimmten räumlichen wie auch politischen Standpunkt zuweisen.

Stippl arbeitet entlang der Grenzen des malerischen Dispositivs und macht sie durch ihren Eingriff befragbar und verhandelbar. Diese unsichtbaren Grenzen organisieren den Raum und koordinieren die Handlungsweisen. Die Künstlerin thematisiert somit Momente des sozialen Ein- und des Ausschlusses sowie den Standpunkt der BetrachterInnen im Verhältnis zum Gesehenen, einerseits phänomenologisch, andererseits semantisch, diskursiv, sozioästhetisch und politisch. Doch Grenzen implizieren stets auch ihre Überschreitung: Stippl lädt die BetrachterInnen, PassantInnen, SprayerInnen ein, sich den Raum durch Praktiken im Raum (Michel de Certeau¬) anzueignen, sich einzuschreiben, durch Spur, Schrift oder Handlung. Sie stellt damit den Wahrnehmungen des Auges jene des Körpers gegenüber. Denn der agierende, handelnde Körper kann sich dem visuellen Regime, seiner Kontroll- und Ordnungsfunktion, entgegenstellen, es unterlaufen. Der Stadtraum wird auf diese Weise als Raum sozialer wie sozioästhetischer Diversität lesbar.

Marc Augé definierte einst Orte der Passage, der Verkehrs, des Transits als Nicht-Orte, die durch soziale Handlung nicht integriert und nicht zu lebendigen Orten gemacht werden können. Die durch die Mauern des Ernst-Arnold-Parks begrenzte Passage, der durch den künstlerischen Eingriff Identität und damit Ortstatus verliehen werden soll, bleibt bei Stippl jedoch ein Umschlagphänomen zwischen Ort und Nicht-Ort. Die Intervention lässt die Passage im Zustand einer bestimmten Unbestimmtheit verweilen, hält ihre semantische und ästhetische Stellung in der Schwebe, in Veränderung, in Verhandlung. Durch die möglichen Grenzüberschreitungen seitens der anonymen MalerInnen wird der Ort jedoch zugleich zum transitorischen Raum, zur Heterotopie im Sinne Foucaults: zu einem Ort, der Unvereinbares vereinbart.

Painting as a Socio-Aesthetic Dispositif

Remarks on the Observation of the Unobservable 

David Komary, Galerie Stadtpark Krems, 2010

In WORK IN PROGRESS Hannah Stippl turns the retaining walls of the Ernst Arnold Park into the painting surface for a dialogical artistic intervention: in the coming years she will use these walls as her artistic medium – in reaction and response to the spray paint and graffiti scene who have been using these surfaces for years. Hannah Stippl’s mural paintings downright provoke being painted over and written on by the scene’s artists. This way she turns the passage into a model work of art that is changeable and aimed at social exchange through a dialogical aesthetic process.

In her paintings Hannah Stippl usually refer to natural, botanical plant structures. In her intervention paintings she makes use of an aesthetic strategy that is typical for her work: it seems that she has always been more interested in evoking aesthetic impressions than in rendering perceptions that merely express a likeness relationship. The repetitive set of structures made up of areas of different colours and created using paint rollers are not memetic reproductions, but rather generate an equivocal impression of the natural. Her paintings challenge the observer’s gaze, his/her ability to project. Foliage and leaves are not so much detected by the observer as they are read into the structures.

Does such a manner of painting, sometimes seemingly impressionist, in the public sphere not mean aestheticisation per se? In this reading Stippl’s painting intervention is no more than an escapist projection area. In that case art would merely be an antithesis to the everyday, to the commonplace, to that which is public, and would thus be stripped of any political dimension. However, Stippl works with the reduction and dissolution of the visual to reach a state of perceptive indeterminacy. This camouflage-like encoding of their painting does not set out to occlude, conceal or disguise, rather it aims to evoke the invisible in the visible. As she does so she no longer merely refers to impressions of nature, as it might appear at first sight, but rather to covert mechanisms of aesthetic regimes, hegemonialised forms of viewing art.

In her intervention the artist does without formal cohesion, she does not construct a supposed autonomous artistic entity disconnected from the outside world, rather she creates a pictorial-interventionistdispositifin the form of an open aesthetic system. Here the artistic is closer to an activity, an aesthetic practice, which impacts on everyday public life and interacts with it. When Stippl as invited artist paints walls, while graffiti, as we all know, is illegal and punishable, over time and as the work develops the question arises as to the legitimacy of the individual aesthetic inscriptions of third parties. What is the basis on which decisions are made as to which painterly marks are to remain and which are to be removed? Is it aesthetic quality, authorship or property right? In other words: What legitimises a creative intervention? Subjective, aesthetic or political categories? The official invitation turns the forbidden, through Stippl’s pictorial dispositif, into something else, it assumes a different meaning. Stippl herself, prototypically, turns from vandal into official. At the same time, precisely to escape this typecasting and instrumentalisation, the artist leaves gaps in the picture and leave certain areas empty and unpainted. The role of these gaps is twofold: on the one hand there is the reception-aesthetic aspect, activating the viewer’s gaze; on the other hand, from a socio-aesthetic perspective, they invite potential sprayers to offer a response, as it were, to provide comments in the form of additions or contradictions. The gaps thus form a projection area for a multitude of fictive images and texts.

If one understands Hannah Stippl’s intervention as conceptual and contextually reflexive painting that has as its theme the conventions of perception and representational codes of art itself, then it is no longer about reflection on the visible, the visual, the “artistic”. Stippl does not paint in order to depict the natural or to yield impressions of nature, rather, she uses the presentation of the natural as a raw material, as a conventional and socially accepted code for the beautiful per se. Stippl thus at the same time focuses on schematisations, which ultimately are constitutive of the system of art. The beautiful is thus not a publicly negotiated category, but rather it is brought forth in and by certain dispositifs. To make these demarcations visible and observable, the artist creates an aesthetic directive for the observation of observation: of modes of reception and representational relations within art and adjoining social spheres. Modes of reception that are based in social history. The impact and the significance of the aesthetic thus does not lie in the phenomenon itself, or in the use of forms, in the aesthetic, semiotic and syntactic structure of the work. Dispositifs are those systematic intersections between discursivity and visibility that configure the gaze, lead and guide it, by assigning to the subject a specific spatial as well as political standpoint.

Hannah Stippl works along the boundaries of the dispositif of painting, making them examinable and negotiable through her intervention. These invisible boundaries organise space and coordinate courses of action. The artist thus thematises moments of social inclusion and exclusion as well as the standpoint of the observer relative to what is seen, phenomenologically on the one hand, and semantically, discursively, socio-aesthetically and politically on the other. However, boundaries always already imply their transgression: Hannah Stippl invites the observers, passers-by and sprayers to make the space their own through practices in space (Michel de Certeau), and to sign up, through trace, script or action. She thus juxtaposes the perceptions of the eye to those of the body. Because the acting body is able to oppose the visual regime, its control and regulatory function, and undermine it. This way, the urban space can be read as a space of social as well as socio-aesthetic diversity.

Marc Augé once defined places of passage, of traffic, of transit, as non-places, which cannot be integrated or turned into living spaces through social actions. The passage bounded by the walls of the Ernst Arnold Park, which is to be lent an identity and thus the status of a place through the artistic intervention, nonetheless, with Hannah Stippl, stays a transitional phenomenon between place and non-place. Through the intervention the passage lingers in a state of certain uncertainty, its semantic and aesthetic position is suspended, in a state of flux, under negotiation. However, through the possibility of a transgression of boundaries on the part of the anonymous painters the place at the same time becomes a transitory space, a heterotopia in Foucault’s sense: a place that reconciles the irreconcilable.